Katerstimmung in Bolivien

Am Rand der Plaza Murillo, gleich neben dem bolivianischen Präsidentenpalast in La Paz, sitzt Lucía Guzmán und bereitet mit dem Schneebesen frischen Wackelpudding zu. Seit 38 Jahren ist das ihre Arbeit, in guten und schlechten Zeiten. „Mit den hohen Gaspreisen hatten wir gute Jahre, doch das Geld wurde nicht gut investiert.“ Mittlerweile merke sie, wie die Armut im Land wieder steigt, „es gibt immer mehr Straßenverkäufer“.

Bolivien erlebte in den beiden vergangenen Jahrzehnten einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung. Innerhalb weniger Jahre verdreifachte sich das Bruttoinlandsprodukt. Der Anteil jener, die unter der Armutsgrenze leben, sank von 66 Prozent im Jahr 2000 auf unter 35 Prozent 2018. Grund dafür war vor allem der hohe Gas- und Ölpreis, der dem Land große Einnahmen brachte.

Evo Morales, der erste indigene Präsident des Landes, habe während seiner Amtszeit 2006 bis 2019 eine Reihe von Reformen eingeführt, die den wirtschaftlichen Aufschwung verstärkten, sagt Rafael Lindemann vom lateinamerikanischen Zentrum für ländliche Entwicklung (RIMISP). „Es wurden die allgemeine Infrastruktur ausgebaut und die Bedingungen für eine Öffnung des Finanzsektors für Kleinbauern geschaffen, um die Produktion zu steigern.“

Gleichzeitig habe Morales eine langfristige politische Stabilität erreicht, indem er Akteure aus der reicheren Tropenregion und dem ärmeren Andenhochland an einen Tisch brachte, erläutert Lindemann. Diese Entwicklungen seien allerdings auf Kosten der Umwelt geschehen, „da sich die landwirtschaftlich nutzbare Fläche enorm vergrößert hat“. „Und in den Anden führte der sich ausdehnende Bergbau zu enormen Schäden. Viele Flüsse sind inzwischen mit Schwermetall vergiftet.“

In der halbstaatlichen Bank für produktive Entwicklung (BDP) erzählt der Verantwortliche für technische Hilfe, Jesús Chumacero, die Produktivität von Klein- und Kleinstbäuerinnen habe sich in den vergangenen Jahren nahezu verdoppelt. Allerdings habe sich die frühere Hoffnung in einen Wirtschaftsaufschwung nicht erfüllt. „Vor ein paar Jahren sagten manche Politiker, dass wir in kurzer Zeit Lebensbedingungen wie unsere Nachbarländer haben würden“. Das sei so nicht passiert und auch die Produktivität in der Landwirtschaft liege weiter unter dem lateinamerikanischen Durchschnitt.

Der Rückgang der Öl- und Gaspreise seit 2014 führe wiederum zu einer Wirtschaftsflaute, sagt der regierungskritische Wirtschaftswissenschaftler Carlos Toranzo. „Seitdem hat Bolivien eine negative Handelsbilanz und sinkende Finanzreserven.“ Dies habe zu einer schleichenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage geführt. „Nur staatliche Subventionen verhindern derzeit eine Inflation“, erläutert Toranzo, der für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung gearbeitet hat.

Nach Weltbank-Angaben stagniert das Bruttoinlandsprodukt in Bolivien seit 2017. Der Anteil der armen Menschen ist zwischenzeitlich wieder etwas gestiegen und lag 2021 bei 36 Prozent.

Die Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) stellt seit 2006 fast durchgehend die Regierung. Ausnahme war das Jahr ab November 2019, als Morales nach Wahlbetrugsvorwürfen und auf Druck des Militärs zurücktrat und ins Exil ging. Die Oppositions-Senatorin Jeanine Añez ernannte sich daraufhin zur Staatschefin, stieg aber chancenlos aus dem Wahlkampf für die Präsidentenwahl im November 2020 aus. Seitdem steht Luis Arce dem Staat vor – in ständigem Konflikt mit seinem Vorgänger Morales.

Der Ex-Präsident möchte 2025 erneut kandidieren, hat aber nicht genug Rückhalt in seiner Partei. Die Auseinandersetzung der beiden Männer sorgt durch Straßenblockaden und Proteste immer wieder für Chaos und spaltet die sozialen Bewegungen und damit die Basis der MAS-Partei.

„Morales hat viele gute Reformen durchgesetzt, aber er sollte nun der neuen Generation Platz machen“, sagt der Arbeiter Reinaldo Tito, der stolz eine Jacke des staatlichen Öl- und Gaskonzerns trägt. Dank Luis Arce gehe es Bolivien besser als vielen Nachbarländern. Doch auch Tito warnt, „uns normalen Menschen wird langsam das Geld knapp“.