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Journalisten sind “nicht für Wahlergebnisse zuständig”

Was dürfen Medien, wenn es beispielsweise gegen Prominente oder Politiker Vorwürfe gibt, die nicht oder bisher nicht hundertprozentig belegbar sind? Über die sogenannte Verdachtsberichterstattung wird seit den Fällen rund um den Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger und „Rammstein“-Sänger Till Lindemann lebhaft diskutiert – am Freitag nun auch im Münchner Presseclub. Einig waren sich die Medienexperten und Juristen darin, dass sie sich nicht wirklich einig sind. Wohl auch, weil der ganze Bereich juristisch eher wacklig ist: Was Gerichte in Süddeutschland in Ordnung finden, kann in Hamburg schon ganz anders enden.

„Focus“-Kolumnist Jan Fleischhauer kritisierte bei der Diskussionsrunde die „Süddeutsche Zeitung“ für ihre Berichterstattung in der Flugblatt-Affäre rund um Freie-Wähler-Chef Aiwanger scharf. „Das Publikum hat ein Gespür für doppelte Standards“ und reagiere entsprechend sensibel, wenn diese zur Anwendung kämen, sagte Fleischhauer. „Eine Zeitung lebt vom Ruf, den sie verbreitet“, auch unter Politikern, sagte der Kolumnist. Was den Respekt und die Ehrfurcht vor der „SZ“ angehe, habe den noch niemand so „zerdeppert“, wie die aktuelle Chefredaktion. Schließlich gehe Aiwanger gestärkt aus der ganzen Geschichte hervor.

Dieser Einschätzung widersprach in der Debatte der Vorsitzende des Bayerischen Journalisten-Verbandes (BJV), Harald Stocker, vehement. Die Verdachtsberichterstattung sei ein normales journalistisches Stilmittel. Der gesellschaftliche Auftrag von Journalistinnen und Journalisten sei, das öffentliche Informationsbedürfnis zu befriedigen – man müsse also klären, ob ein solches Bedürfnis vorliege. Dies sei im Fall Aiwanger aus Sicht Stockers zweifelsfrei vorhanden gewesen. Dass die Flugblatt-Affäre die Umfragewerte der Freien Wähler habe steigen lassen, kommentierte er so: „Wir sind im Journalismus nicht für die Wahlergebnisse zuständig.“

Der Würzburger Rechtsanwalt und Medienrechts-Experte Chan-jo Jun sagte, aus juristischer Sicht brauche man für eine wasserdichte Verdachtsberichterstattung sogenannte Anknüpfungstatsachen. Das höchste Zivilgericht in Deutschland, der Bundesgerichtshof (BGH), sage aber nicht, wie viele solcher Tatsachen man benötige. Im Fall Aiwanger habe die „SZ“ neben dem Flugblatt, der dafür verwendeten Schreibmaschine auch die Aussagen von Lehrern und Schülern gehabt. Das könnte ausreichend gewesen sein: „Wahrscheinlich war das juristisch in Ordnung“, sagte der Jurist. Ob es politisch klug gewesen sei, sollten andere bewerten.

„Bunte“-Reporter Manfred Otzelberger gab zu bedenken, dass es „bis heute keine juristischen Schritte gegen die ‘Süddeutsche Zeitung’ von Aiwanger gegeben hat“, obwohl er diese bereits vor einer Veröffentlichung des Themas angedroht hatte. „Da müsste er sich ja selbst erklären“, das wolle er aber offenbar nicht. Otzelberger lobte die Berichterstattung der „SZ“, das sei „die Story des Jahres“ gewesen. Jurist Jun sagte dazu, dass ein juristisches Vorgehen gegen eine unbegründete Verdachtsberichterstattung eigentlich immer erfolgreich sei: „Die Justiz legt jedes Wort auf die Goldwaage“, erläuterte der Rechtsanwalt, der Rechtsstaat funktioniere.

Kolumnist Fleischhauer übte am Freitag nicht nur Kritik an der „SZ“, sondern auch am ZDF für die Berichte über den inzwischen entlassenen Chef des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), Arne Schönbohm, in der Sendung „ZDF Magazin Royal“. An den gegen Schönbohm erhobenen Vorwürfen sei nach aktuellen Erkenntnissen nichts dran, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) habe den Mann zu Unrecht entlassen. Es sei skandalös, dass der ganze Beitrag nun „als Satire“ bezeichnet werde und weiterhin ohne jede Erläuterung oder Erklärung in der Original-Version in der ZDF-Mediathek abrufbar sei. (00/3091/22.09.2023)