Jesiden: Abschiebungen sind wie eine Fortführung des Genozids

Vor der am Mittwoch beginnenden Innenministerkonferenz haben die Hilfsorganisation „Pro Asyl“ und der Flüchtlingsrat Niedersachsen einen sofortigen bundesweiten Abschiebestopp für Jesidinnen und Jesiden gefordert. Ihnen müsse aus völkerrechtlichen und humanitären Gründen eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, sagte der Geschäftsführer des Flüchtlingsrats, Kai Weber, am Mittwoch in Hannover. Obwohl die Verfolgung der Jesiden durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) vom Bundestag im Januar als Völkermord anerkannt worden sei und die Lage im Irak weiterhin gefährlich sei, würden Jesiden vermehrt abgeschoben.

Im ersten Quartal des zu Ende gehenden Jahres wurden laut Weber 15 Menschen in den Irak abgeschoben, im zweiten 27 und im dritten 68. An den Rückführungen beteiligten sich die meisten Bundesländer. Lediglich Niedersachsen, Bremen und Berlin schöben Jesiden bisher nicht ab. „Wir befürchten aber, dass sich das ändern könnte“, sagte Weber. Denn die drei Länder hätten keinen Abschiebestopp verhängt, sondern erklärten lediglich, Abschiebungen seien „bisher nicht vollziehbar.“ Hintergrund für die Abschiebungen sei ein seit Sommer 2023 greifendes Rückführungsabkommen mit dem Irak.

Weber betonte, es sei für Jesiden unzumutbar, in das „Land der Täter“ zurückzukehren – ähnlich wie man auch den Juden nach dem Zweiten Weltkrieg eine Rückkehr nach Deutschland nachvollziehbarerweise nicht zumuten wollte. Die Jesidin Shafa Gala Hussein, die vor dem IS floh, seit 2014 in Deutschland lebt und eine Ausbildung beim Zahnarzt macht, betonte, dass Deutschland für sie ihre neue Heimat sei. Insbesondere Frauen seien im Irak stark gefährdet. „Die Abschiebungen müssen aufhören.“

Holger Geisler, ehemaliger Sprecher des Zentralrats der Jesiden in Deutschland, sprach von einer gelungenen Integrationsgeschichte der Jesiden in Deutschland. „Diese Abschiebungen sind wie eine Fortführung des Genozids, den der IS nicht vollendet hat“, sagte er: „Waren die Resolution, die Äußerungen der Politik, dass sich dieser Völkermord nicht wiederholen darf, denn nur Lippenbekenntnisse?“

Nach Angaben von Geisler gibt es rund 1,2 Millionen Jesiden weltweit. Davon lebten etwa 300.000 in Deutschland. 30.000 seien aktuell von der Abschiebung bedroht, da sie nur über eine Duldung verfügen.

Von 2014 bis etwa 2016/2017 haben IS-Kämpfer in Nordsyrien und im Nordirak einen Völkermord an den Jesiden verübt. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden 5.000 bis 10.000 Angehörige der ethnisch-religiösen Gemeinschaft systematisch ermordet. Rund 7.000 Menschen wurden entführt, Tausende Kinder und Frauen vergewaltigt und versklavt.

Die Herkunftsregion der Jesiden, die Region Sindschar im Irak, stellt ein strategisch wichtiges Grenzgebiet dar, in dem die Interessen zahlreicher Akteure aufeinandertreffen, darunter die des Irans und der Türkei. Jesidische Organisationen in Deutschland machen seit Wochen auf die ihnen drohenden Abschiebungen aufmerksam, unter anderem mit einem offenen Brief an die Bundestagsabgeordneten und einem Brief an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD).