Israel setzt vermehrt auf Zivilisten zur Selbstverteidigung

Seit dem 7. Oktober greifen immer mehr Israelis zur Waffe. Befürwörtern der zivilen „Notfalleinsatzkommandos“ stehen Kritiker gegenüber. Sie befürchten mehr Gewalt und eine Eskalation des Konflikts.

Fokussiert geben sich die uniformierten Männer Deckung. Die Waffen im Anschlag, stürmen sie eine Synagoge in der israelischen Siedlung Gilo im Südwesten Jerusalems – für Trainingszwecke. Sie gehören der „Kitat konenut“ an, dem örtlichen Notfallkommando aus Zivilisten. „Synagogen sind gefährdete Orte, voller Menschen, die unvorbereitet und unbewaffnet sind“, erklärt Mosche; ideales Ziel für Terrorangriffe also. Mosche leitet das Freiwilligenkommando von Gilo. Seinen Familiennamen behält der Anwalt und frühere Sozialarbeiter lieber für sich.

Bewaffnete Einheiten wie die von Mosche gab es schon vor der Gründung Israels 1948. Mit der Unabhängigkeit des Landes und seiner Armee wurden sie vielfach obsolet, außer an Orten, die aufgrund ihrer Lage als besonders gefährdet angesehen wurden. In Siedlungen in den besetzten Gebieten etwa oder entlang der Grenze zum Gazastreifen. Am 7. Oktober, beim Angriff der islamistischen Hamas, als die Menschen in den Stunden bis zur Ankunft der Sicherheitskräfte in Angst in ihren Häusern ausharrten, schützten die Kitot konenut Leben, so gut es ging.

Der 7. Oktober sei „eine enorme Tragödie“ für das Land gewesen, das „auf den Ruinen des Holocaust“ erbaut wurde, sagt Mosche. Das Massaker als den 11. September Israels zu bezeichnen, sei ein „Understatement“, so der Anwalt. „Es hat uns alle wachgerüttelt. Wir haben realisiert, dass die Sicherheit nicht vollständig von Militär und Polizei abhängen darf.“

In Israel entscheidet der Staat, wer unter welchen Bedingungen Waffen tragen darf. Am 15. Oktober, eine Woche nach dem Massaker, wurden die Kriterien für den Waffenbesitz stark gelockert – nicht ohne Kritik. Menschenrechtler und Frauenrechtsgruppen warnten vor städtischen Milizen und mangelnder Kontrolle der Waffenträger, Aktivisten gegen die israelische Besatzung vor weiterer Zunahme von Siedlergewalt gegen Palästinenser.

Mosche aus Gilo weist die Kritik zurück. In Israel sehe man anders als etwa in den USA keine Massenerschießungen, keine Kinder, die sich einer Waffe bemächtigten, keine Verrückten, die zum Gewehr griffen. „Warum? Weil wir zur Armee gehen. Dort lernt man Respekt vor der Waffe und ihrem einzigen Ziel: Selbstverteidigung“, sagt er. Die „Reinheit der Waffe“ entspreche den Werten der israelischen Armee, entsprechend könne eine Waffe nicht für einen unreinen Zweck genutzt werden.

Die Nachfrage nach Waffenscheinen ist zuletzt massiv gestiegen. Allein in den ersten beiden Kriegsmonaten sollen laut Berichten 260.000 neue Anträge eingegangen sein, rund 20.000 wurden im selben Zeitraum bewilligt. Große Befürworter der zivilen Bewaffnung sind rechtsradikale und rechtsextreme Regierungsmitglieder, allen voran der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir (Partei „Jüdische Stärke“). Schon bei Amtsübernahme versprach er eine Lockerung der Regeln.

Waffen in den Händen von Zivilisten seien mitnichten neu in Israel, sagt Suhail Khalilieh. Der politische Analyst aus Beit Dschallah bei Bethlehem beobachtet seit knapp 20 Jahren für das palästinensische Institut für angewandte Forschung – Jerusalem (Applied Research Institute – Jerusalem, ARIJ) die Entwicklung israelischer Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten. Waffentrainingszentren, um 2008 für jüdische Siedler in größeren Siedlungen entstanden, seien längst zu einer Touristenattraktion geworden.

Auch im Schießzentrum „Caliber 3“ werden stundenweise Schießstand-Abenteuer für Touristen angeboten, „im Rahmen der israelischen Waffengesetze“, wie man am Empfang betont. Das richtige Training sei jenen vorbehalten, die einen Waffenschein haben. Der innere Kern des Geländes darf nur von Befugten betreten werden, Fotos sind strikt verboten. Die „Akademie für Terrorismusbekämpfung, Sicherheit und Verteidigung“ ist das größte israelische Schießzentrum und liegt im Siedlungsblock Gusch Etzion südlich von Bethlehem im besetzten Westjordanland. Armee, Polizei und Sicherheitskräfte gehören laut „Caliber 3“ zu den Kunden. Das betriebseigene Geschäft bietet von Messern über Schusswaffen und taktischer Kleidung ein breites paramilitärisches Angebot.

Über die Jahre habe die Aktivität der Zentren ebenso zugenommen wie die Gewalt der Siedler gegen Palästinenser, sagt Khalilieh. Seit 2016 waren es laut dem Experten rund 6.000 Übergriffe, mehr als ein Drittel davon allein im vergangenen Jahr. Mit der aktuellen israelischen Regierung, in der „eine substanzielle Zahl rechtsextremer Minister“ sitze, habe sich „mental alles verändert“, sagt er. Ben-Gvir etwa rufe offen zu Gewalt gegen Palästinenser auf. „Seine Idee bewaffneter Milizen ist ein Joker für Siedler.“ Auch wenn die Gewalt „lange vor dem 7. Oktober“ angefangen habe, sieht der Palästinenser seither einen Anstieg an Übergriffen durch Siedler, aber auch durch die Armee. „In palästinensischen Orten herrscht Angst, vor allem, weil die israelischen Anordnungen offensichtlich geändert wurden. Geschossen wird, um zu töten“, sagt Khalilieh.

In vielen israelischen Orten sind in den letzten Monaten neue Notfallkommandos entstanden, rekrutiert vor allem aus Armee- und Polizeiveteranen. 200 bis 400 bewaffnete Freiwillige sind es pro Viertel in Jerusalem, „ein paar Tausend insgesamt“, sagt Chaim Messika. Er ist freiwilliger Polizist und in Jerusalem für die Kitot konenut verantwortlich. Die Zusammenarbeit mit der Polizei sei deshalb besonders wichtig, weil man keine städtischen Milizen wolle. Der 7. Oktober hat für Messika etwas im Verhältnis von Bürgern und Polizisten verändert. Die Kommunikation zwischen Stadt und Polizei habe sich verbessert, und Polizisten seien in den Augen der Bürger „nicht mehr nur die, die Strafzettel verteilen“.

Aaron Lalum brachte erst ein Freund in der Polizei auf die Idee, sich für das Notfallkommando in seinem Viertel „Beit Vagan“ im Südwesten Jerusalems aufstellen zu lassen. „Ich war immer wachsam, habe abends meine Runden im Viertel gedreht, aber jetzt ist es ein ganz anderes Niveau“, sagt der Kampfsportler, der in Frankreich aufgewachsen ist. Es gehe darum, nach außen zu zeigen, „dass wir wachsam sind. Nach dem, was passiert ist, wissen wir, dass es keine Paranoia ist.“ Dass in einem Aufwasch weitere Probleme wie etwa sexuelle Belästigungen verhindert würden, sei ein zusätzlicher Gewinn.

Solange die existenzielle Bedrohung durch die Hamas und andere Gruppen anhalte, werde man mit der zivilen Selbstverteidigung weitermachen, sagt Chaim Messika. „Wir sind Juden, nicht Christen: Wir halten nicht die zweite Wange hin.“

Suhail Khalilieh sorgt sich vor einem weiteren Anstieg der Gewalt. „Irgendwann werden die Palästinenser mehr Widerstand leisten, als Israel verkraften kann. Sie werden nicht zusehen, dass Freunde und Familie getötet werden“, sagt er. Die beste Lösung in der gegenwärtigen Lage sieht der Analyst in „einer internationalen Präsenz, die unsere Gemeinden schützt, so wie die UN-Friedenstruppen im Libanon“.