Iran greift Israel an: Das Tor zu Hölle

Mit mehr als 300 Drohnen und Raketen hat der Iran Israel angegriffen. Geht das Pulverfass Nahost jetzt hoch? Eine Analyse unseres Chefredakteurs Gerd-Matthias Hoeffchen.

In Teheran feiern die Menschen den iranischen Angriff, der eine gefährliche Eskalation ist
In Teheran feiern die Menschen den iranischen Angriff, der eine gefährliche Eskalation istImago / Middle East Images

Das Tor zur Hölle ist geöffnet worden. Diesen Ausdruck hört und liest man jetzt oft. Iran hat Israel direkt angegriffen und damit eine bislang nicht dagewesene Verschärfung des Nahost-Konflikts heraufbeschworen. Die Ausweitung zu einem Flächenbrand ist möglich. Die gesamte Region könnte in einen „Super-Krieg“ stürzen – und am Ende auch weltweit Folgen von Gewalt und Terror nach sich ziehen. Auch in Europa. Auch in Deutschland. Ein winziges Fünkchen Hoffnung allerdings bleibt – vielleicht.

Seit Jahrzehnten ist die Region „Naher Osten“ durch Kriege und Gewalt bestimmt. Israels Existenzkampf gegen seine überwiegend feindliche Umgebung, der anhaltende Konflikt um die Palästinenser haben unversöhnliche Lager entstehen lassen. Seit Langem zieht dabei im Hintergrund der Iran an den Fäden: Der selbsterklärte Todfeind Israels hat dem verhassten Gegner immer wieder heftig zugesetzt – durch Stellvertreterkriege und Unterstützung israelfeindlicher Terrorgruppen, etwa Hamas im Gazastreifen, Hisbollah im Libanon, Milizen in Syrien und die Huthi-Rebellen im Roten Meer. Irans ausdrückliches Ziel dabei: den Staat Israel von der Landkarte tilgen.

Israel setzt auf Abschreckung

Bei aller Todfeindschaft: Bislang hat die Islamische Republik den direkten Angriff aus Israel gescheut. Aus gutem Grund. Denn Israel setzt auf gnadenlose Abschreckung. Seit seiner Gründung im Jahr 1948 hat der Staat Israel immer wieder klar gemacht: Wer uns angreift, bekommt die volle Wucht unserer militärischen Stärke zu spüren.

Und die ist enorm. Israel ist ein kleines Land, hat aber eine gewaltige, hochmoderne Armee, die für ihre Schlagkraft gefürchtet wird. Der Staat verfügt über Atomwaffen und konnte sich seit Jahrzehnten auf die Unterstützung der Supermacht USA verlassen. Auge um Auge? Von wegen. Israels Botschaft an die Welt: Wer uns ans Auge will, dem schlagen wir den Schädel ein.

Diese Doktrin der Abschreckung hat lange funktioniert, mehr oder weniger. Aber jetzt ist plötzlich alles ganz anders. Schon der Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 zeigte: Die palästinensische Terrorgruppe ließ sich weder durch Drohung noch durch Gewalt daran hindern, Israel aus dem Gazastreifen heraus anzugreifen und dabei schmerzhaft zu verwunden.

Iran nimmt Eskalation in Kauf

Vollends aber offenbarte sich das Scheitern des Konzepts der Abschreckung durch übermächtige Gewalt am vergangenen Wochenende: Mit den Raketen und Drohnen, die der Iran von seinem Staatsgebiet aus auf israelisches Gebiet geschossen hat, ließ die Islamische Republik das bislang Undenkbare geschehen. Sie nimmt damit eine Ausweitung der kriegerischen Handlungen in Kauf; ja, sie provoziert sie geradezu. Münden könnte sie in einem Blutbad von geradezu apokalyptischen Ausmaß.

Nun muss man sich fragen: Wie konnte Iran so dumm – oder zumindest: so fahrlässig sein? Dem obersten Führer der Islamischen Republik, Ali Chamenei, und seinen Revolutionsgarden, muss doch klar gewesen sein, dass Israel diesen Angriff nicht einfach so hinnehmen würde.

Wer überschritt Rote Linie zuerst?

Schaut man sich die Gründe an, die der Iran selbst und auch sein mächtiger Unterstützer Russland dafür geben, liest man: Nicht der Iran hat als erster eine Rote Linie überschritten. Sondern Israel.

Israel hat eine hochmoderne Armee
Israel hat eine hochmoderne ArmeeImago / Xinhua

Tatsächlich hatte die israelische Luftwaffe am 1. April ein Konsulargebäude der iranischen Botschaft in der syrischen Hauptstadt Damaskus bombardiert und dabei mehrere hochrangige Mitglieder der iranischen Revolutionsgarden getötet. Der Angriff war ein klarer Bruch des Völkerrechts, das diplomatische Vertretungen unter besonderen Schutz stellt. Zwar sieht das Völkerrecht in solch einem Fall nicht die Erlaubnis zu Vergeltungsschlägen vor, die der Iran jetzt für sich in Anspruch nimmt. Trotzdem: Der Luftangriff auf das Botschaftsgelände war von Israel eine klare Provokation, von der man erwarten musste, dass der Iran sie nicht unbeantwortet ließe.

Und hier kann man genauso fragen: Wie konnte Israel diese absehbare Eskalation der Gewalt in Kauf nehmen?

Eskalation in Nahost – Stufe für Stufe

Zwei Antworten werden in der internationalen Szene der Analysten erwogen: Entweder haben Israels Entscheider die Lage tatsächlich komplett falsch eingeschätzt. Das wäre nach dem Desaster von Gaza im Oktober bereits das zweite Mal und wirklich schlimm. Noch schlimmer wäre eine weitere Lesart: Israels Premierminister nimmt eine Eskalation bewusst in Kauf. Seit Monaten ist er innenpolitisch angeschlagen, ihm drohen Korruptionsprozesse, das Volk geht gegen in auf die Straße, die USA drohen, ihm die Unterstützung zu entziehen. Das alles ist mit dem Angriff Irans vom Tisch: Nun müssen alle geeint gegen den Feind von außen stehen.

Die Gründe mögen undeutlich sein. Die Lage an sich aber ist klar: klassische Eskalation. Stufe für Stufe schraubt sich ein Konflikt hoch. Nun drohen Vergeltungsschläge der Atommacht Israel. Irans Verbündetem Russland käme es vermutlich sehr gelegen, wenn die USA sich engagierten und dafür die Ukraine etwas weniger im Blick hätten. Auf der ganzen Welt würde sich der Konflikt in noch stärkerer Parteinnahme für oder gegen Israel auswirken. Mit Protesten. Terrorattacken. Auch in Europa. Auch in Deutschland.

Hoffnung? Ein winziges Fünkchen bleibt. Vielleicht. Dass der Iran seine Angriffe lange vorher ankündigte und der Abwehr Israels damit Vorwarnzeit gab, dass er zunächst langsame Drohnen schickte, dass er eher unbedeutende Ziele in Israel angriff – das alles könnte darauf hindeuten, dass die islamische Republik an dem ganz großen Knall dann doch nicht interessiert ist. Sagen zumindest manche Analysten. Alles wird jetzt davon abhängen, wie Israel in den nächsten Tagen reagiert.