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Inkontinenz ist Tabu und Volkskrankheit – Behandeln statt schweigen

Millionen Menschen sind von Inkontinenz betroffen, doch aus Scham und Unsicherheit sprechen die wenigsten darüber. Dabei gibt es Therapien, die die Beschwerden lindern und die Lebensqualität deutlich verbessern.

“Wir reden heute über viele Themen offener – von Geldsorgen bis zum Sex. Inkontinenz aber ist nach wie vor ein Tabu”, sagt Ricarda Bauer, Chefärztin der Urologischen Klinik München-Planegg. Viele Betroffene würden sich aus Scham nicht einmal ihrem Hausarzt anvertrauen und blieben deshalb unbehandelt. Dabei sei die Erkrankung zumindest so weit therapierbar, dass die Lebensqualität deutlich verbessert werde und Patientinnen und Patienten wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könnten.

Genau dies trauen sich Betroffene von Inkontinenz – dem unkontrollierten Verlust von Urin oder Stuhl – oft nicht uneingeschränkt. “Erkrankte richten ihr Leben nach Blase oder Darm aus”, erklärt die Fachärztin. Sie würden vor dem Verlassen der eigenen vier Wände genau überlegen, ob auf ihrem Weg ausreichend Toiletten zur Verfügung stehen. Bei einem Theaterbesuch etwa würden sie stets Plätze am Gang wählen, um schnellstmöglich aufs stille Örtchen verschwinden zu können. Und: “Schreitet die Inkontinenz voran, wagt man gar nicht mehr, an Veranstaltungen teilzunehmen.”

Da Erkrankte oft nachts mehrmals zur Toilette müssten, könne es zur Tagesmüdigkeit kommen. Bei älteren Menschen könnten schlaftrunkene Gänge ins Badezimmer zu Stürzen und Knochenbrüchen führen; bei Berufstätigen könne sich die Symptomatik auf die Produktivität auswirken. Problematisch sei Inkontinenz zudem in Bezug auf Partnerschaft und Sexualität: “Wer Sorge hat, spontan in die Hose zu pieseln und entsprechend unangenehm zu riechen, lässt keinen mehr nahe an sich heran”, gibt Bauer zu bedenken.

Auf der Basis von Forschungen, Befragungen und Schätzungen geht die Deutsche Kontinenz Gesellschaft davon aus, dass über alle Altersgruppen hinweg rund 15 Prozent der Frauen und 10 Prozent der Männer an Inkontinenz leiden – umgangssprachlich als Blasenschwäche bezeichnet. Dabei ist die Belastungsinkontinenz, die mit einem plötzlichen Verlust von Urin beim Niesen oder Husten, Springen oder Laufen einhergeht, häufiger bei Frauen anzutreffen als bei Männern.

Mit Dranginkontinenz, die sich durch einen plötzlichen, kaum kontrollierbaren Harndrang mit unwillkürlichem Urinabgang äußert, hätten hingegen deutlich mehr männliche Patienten zu kämpfen, erläutert die Expertin. Sie stehe oft in Zusammenhang mit einer Prostata-Operation. Die Stuhlinkontinenz, bei der Darmgase oder Stuhl nicht mehr zurückgehalten werden können, betrifft nach Schätzungen etwa 5 bis 10 Prozent der deutschen Bevölkerung.

Auch wenn die Wahrscheinlichkeit mit zunehmendem Alter deutlich steige, warnt die Urologin davor, Inkontinenz als Altersleiden abzutun. “Auch viele junge Frauen, die Kinder geboren haben, kennen das Problem.” Als Begleiterscheinung neurologischer Erkrankungen wie Multipler Sklerose oder in Folge einer Operation könne Blasenschwäche auch junge Menschen treffen. Insgesamt geht die Fachgesellschaft deutschlandweit von mindestens 10 Millionen Menschen mit Harninkontinenz aus – also fast jede neunte Person.

Verursacht werden die Beschwerden durch eine geschwächte Beckenbodenmuskulatur, die zwischen Schambein, den Sitzbeinhöckern und Steißbein verläuft. Neben Geburten kann der Abbau auch altersbedingt sein – oder eine Folge von Übergewicht und chronischem Husten. Zur Kräftigung wird oft ein spezielles physiotherapeutisches Training empfohlen, vom dem laut Bauer auch Männer und ihre Erektionsfähigkeit profitieren. Je nach Befund kämen zudem Biofeedback, Elektrostimulation und – bei Frauen – lokal verabreichte Hormon-Tabletten in Frage. In schweren Fällen könnten Operationen helfen, etwa durch stützende Schlingen.

“Wir müssen realistisch bleiben”, sagt die Urologin. “Unsere individuell angepassten Therapien verbessern die Beschwerden deutlich und steigern die Lebensqualität; den Körper eines 20-Jährigen können sie indes nicht zurückbringen.” Voraussetzung für mehr und bessere Behandlungen sei, dass die Erkrankung enttabuisiert werde, damit Betroffene darüber sprechen und Hilfe suchen würden. Derzeit erhielten nur rund 15 bis 20 Prozent eine angemessene Versorgung.