Inklusion mit „Moby Dick“: Theater Lüneburg geht neue Wege

Anspruchsvolle Stücke, hohe Ticketpreise oder die Angst aufzufallen: Für Menschen mit Behinderung gibt es viele Gründe, kein Theater zu besuchen. In Lüneburg wollen Lebenshilfe und Theater das ändern.

Besuchergruppe mit Begleitpersonen der Lebenshilfe Lüneburg besuchen eine Theatervorstellung
Besuchergruppe mit Begleitpersonen der Lebenshilfe Lüneburg besuchen eine Theatervorstellungepd-Bild / Hans-Jürgen Wege

Noch 45 Minuten, dann beginnt auf der Studiobühne des Lüneburger Theaters das Stück „Moby Dick“. 13 Frauen und Männer haben schon Platz genommen, sie sind zwischen Ende 20 und Anfang 70. Dramaturgin Hilke Bultmann gibt ihnen und ihren Begleitpersonen in einfachen Worten einen Überblick über das Walfänger-Drama, das hier als Ein-Personen-Stück mit Live-Soundtrack auf die Bühne kommt.

Dann tritt Schauspieler Yves Dudziak nach vorn. Aus vier Holzquadern stellt er ein angedeutetes Schiff auf. Und er zeigt Requisiten, die er gleich in der Vorstellung in unterschiedlichen Rollen verwenden wird – eine rote Wollmütze, eine Harpune, eine Krücke. Frage aus der Gruppe an den Schauspieler: „Was für Tricks hast du, um den ganzen Text auswendig zu lernen?“ „Verrate ich nicht“, scherzt Dudziak und setzt dann ernsthaft nach: „Mir hilft dabei zum Beispiel Bewegung.“

Für die Gruppe ist die halbstündige Einführung ein wichtiger Teil des Abends. Denn hier sitzen keine routinierten Theatergänger, sondern Menschen mit Beeinträchtigungen, die sonst nur selten im Publikum zu finden sind. Fast alle arbeiten in Werkstätten der Lebenshilfe in Lüneburg. Und sie profitieren in dieser Spielzeit von einer neuen Kooperation zwischen Lebenshilfe und Theater.

Theater Lüneburg: Teilhabe am Theaterleben

Insgesamt sechs Besuche sind vereinbart, sagt Stefan Schliephake, Sozial- und Theaterpädagoge bei der Lebenshilfe. Er erklärt, was das inklusive Projekt ausmacht: Die Teilnehmenden kommen als feste Gruppe. Sie erhalten eine Einführung ins Stück in einfacher Sprache. Die Tickets sind stark vergünstigt. Und wenn nötig, helfen Ehrenamtliche beim Weg zum Theater und wieder nach Hause. Ein Verein und eine Stiftung der Lebenshilfe fördern das Projekt finanziell. Das Theater stellt die Eintrittskarten für die ehrenamtlichen Begleitpersonen zur Verfügung.

Viele der Teilnehmenden spielen bei der Lebenshilfe selbst in Freizeit-Theatergruppen mit. „Das Interesse daran ist riesig“, berichtet Stefan Schliephake. „Trotzdem gehen die Spielenden nicht ins Theater, sie fehlen dort im Publikum.“ Etwa, weil sie mit den unausgesprochenen Regeln nicht vertraut sind – von der Kleidung bis zum angemessenen Zeitpunkt für Applaus – und Sorge haben aufzufallen. Oder weil ihnen die Stücke zu anspruchsvoll erscheinen. „Dabei sollten Menschen mit Behinderung gleichberechtigt teilhaben können – auch am Theaterleben“, sagt Schliephake.

„In der Gruppe macht der Theaterbesuch mehr Spaß“

Das ist heute bei „Moby Dick“ aus nächster Nähe möglich: Die Spielfläche befindet sich unmittelbar vor den Stuhlreihen, es gibt keinen Vorhang, Schauspieler und Musiker agieren nah an den Zuschauern. Gelegentliche Publikumsbeteiligung inklusive: So gibt Susanne Kracht aus der Besuchergruppe begeistert der Hängematte Anschwung, in der Schauspieler Dudziak liegt.

Schauspieler Yves Dudziak (re.) zeigt Requisiten für das Stück
Schauspieler Yves Dudziak (re.) zeigt Requisiten für das Stückepd-bild / Hans-Jürgen Wege

Auch Robin Thieler gehört zu der Gruppe. Der 46-Jährige arbeitet in der Werkstatt der Lebenshilfe unter anderem am Empfang. Er sei, so erzählt er, zuletzt als Grundschüler im Theater gewesen. Und Silke Reischauer (38), die einen ausgelagerten Werkstattarbeitsplatz im Lüneburger Museum hat, betont: „In der Gruppe macht der Theaterbesuch mehr Spaß, allein hätte ich mich das nicht getraut.“

Sabine Bahnsen vom Theater Lüneburg hebt den „Clubgedanken“ hervor, den das Theater etwa auch im Kinder- und Jugendbereich verfolge. Bahnsen: „Wir versuchen, möglichst viele Gruppen anzusprechen.“ Stefan Schliephake von der Lebenshilfe freut sich über die „Willkommenskultur“: „So können die Teilnehmenden professionelles Theater erleben.“

Nach zwei Stunden schauspielerischem Dauereinsatz und dem furiosen Ritt durch zahlreiche Rollen spricht Yves Dudziak auf der Bühne den letzten Satz: „Nennt mich Ismael.“ Es sind jene drei Worte, mit denen die Romanvorlage von Herman Melville beginnt. Lang anhaltender Applaus, Bravo-Rufe. Auch die Besuchergruppe der Lebenshilfe ist berührt von dem dichten Theaterabend. Der nächste Besuch ist schon in Sicht: Dann steht das Musical „Jesus Christ Superstar“ auf dem Programm.