Inklusion bezieht sich auf alle Menschen

Ab Januar 2028 soll Jugendhilfe inklusiv sein. Heißt: Für alle Kinder und Jugendlichen soll es Erziehungshilfen aus einer Hand geben. Im Fritz-von-Waldthausen-Zentrum Essen wird dieser Ansatz gelebt.

Jarno macht sein Freiwilliges Soziales Jahr im JuLe-Haus und kocht für die Kinder. Er hat schon einiges an Gebärdensprache gelernt.
Jarno macht sein Freiwilliges Soziales Jahr im JuLe-Haus und kocht für die Kinder. Er hat schon einiges an Gebärdensprache gelernt.Verena Bretz

Um kurz nach zwölf blinkt die Lichtklingel. Judith Jansen, Sozialpädagogin in der Kinder-Wohngruppe JuLe1, öffnet die Tür. Zwei Jungs im Grundschulalter stürmen herein, werfen ihre Rucksäcke in die Ecke, laufen direkt durch zur Küche und schauen, was da im Topf so lecker riecht. Türkische Linsensuppe hat Jarno an diesem Mittag gekocht. Der 19-Jährige absolviert seit Mitte November sein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in der stationären Jugendhilfeeinrichtung JuLe – die Abkürzung steht für Junges Leben. „Wie Arbeit fühlt sich das hier überhaupt nicht an. Im Gegenteil: Das Miteinander ist so herzlich, wir leben wie eine Familie zusammen“, erzählt der FSJ-ler, während er den Tisch deckt. „Und die anfängliche Blockade wegen der Gebärdensprache hat sich schnell gelockert, jeden Tag lerne ich von den Kindern ein paar Brocken mehr.“

Gebärdensprache als übliche Kommunikation

Denn im Essener Fritz-von-Waldt­hausen-Zentrum (FWZ), zu dem auch das JuLe-Haus gehört, ist Gebärdensprache die Kommunikationsform Nummer eins. Die Besonderheit der Einrichtung, deren moderner Neubau erst im vergangenen Jahr bezogen wurde, ist die Kombination von stationärer Jugendhilfe und Eingliederungshilfe. Heißt: Die Wohngruppen bieten eine barrierefreie Hilfe zur Erziehung als Einrichtung über Tag und Nacht für junge Menschen, die gehörlos oder schwerhörig sind. Barrierefrei bedeutet hierbei, dass Einschränkungen, die durch die Hörschädigung begründet sind, angemessen und fachlich aufgegriffen werden können.

Im JuLe1-Haus gibt es acht Wohnplätze für Kinder ab sechs Jahren, ebenso viele sind es für Jugendliche und junge Erwachsene im JuLe2-Haus. Hinzu kommen sieben sogenannte Verselbstständigungsplätze in der KickOff-Wohngruppe. „Unser inklusiver Ansatz ist, dass wir jeweils schauen, wo die Person steht. Und dass sie dann genau das bekommt, was sie benötigt, um im Leben zu erreichen, was alle anderen auch erreichen können“, sagt Sonja Sturny, stellvertretende Einrichtungsleitung im FWZ.

Diese „Starthilfe“ übernimmt das gebärdensprachkompetente Team, das die jungen Menschen in Schule, Freizeit und Alltag intensiv begleitet. Dabei setzt das FWZ auch auf zahlreiche Kooperationen und gemeinsame Aktionen mit benachbarten Vereinen und Kultureinrichtungen. Sturny: „Wir arbeiten wie jede andere Jugendhilfeeinrichtung auch – nur eben in einer anderen Sprache.“

Judith Jansen am Wochenplan im JuLe1-Haus. Symbole zeigen den Jungen und Mädchen, welche Aktion oder welcher Termin am jeweiligen Tag ansteht.
Judith Jansen am Wochenplan im JuLe1-Haus. Symbole zeigen den Jungen und Mädchen, welche Aktion oder welcher Termin am jeweiligen Tag ansteht.Verena Bretz

Was in den Wohngruppen des FWZ bereits gelebt wird, steht anderen Einrichtungen noch bevor. Denn ab 1. Januar 2028 soll Jugendhilfe inklusiv sein. So steht es im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Das bedeutet: Die bislang getrennte Zuständigkeit für die Eingliederungshilfe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung soll aufgehoben werden, die Jugendämter sollen ab dann für alle Kinder und Jugendlichen zuständig sein, die Erziehungshilfe benötigen. Ganz gleich, ob mit oder ohne Handicap.

„Inklusive Jugendhilfe bedeutet, zentriert vom Kind aus zu denken: Welche individuellen Bedarfe hat es?“, erklärt Kerstin Schwabl, Referentin im Geschäftsfeld Familie und junge Menschen (FJM) bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe. Sie betont, dass sich im Verbandsgebiet der Diakonie RWL bereits zahlreiche Träger auf den Weg gemacht hätten und inklusiv denken würden. „Wo es möglich und das nötige Fachwissen vorhanden ist, betreuen unsere Einrichtungen heute schon Kinder und Jugendliche mit Behinderung“, sagt sie.

Rege Teilnahme an „Inklusion jetzt!“

Weiterer Beleg für das große Interesse an Inklusion sei die rege Teilnahme am bundesweiten Projekt „Inklusion jetzt!“, das über insgesamt vier Jahre und noch bis April 2024 läuft. Schwabl: „Dafür wurden in ganz Deutschland 61 Modellstandorte aus der Kinder- und Jugendhilfe ausgewählt, und darunter sind allein elf Träger aus unserem Verbandsgebiet. Das ist eine sehr starke Leistung!“

Neben dem Essener FWZ beteiligt sich auch die Diakonie Michaelshoven in Köln am „Inklusion jetzt!“-Projekt. Andrea Braun, Bereichsleitung Diakonie Michaelshoven Kinder- und Jugendhilfen gGmbH, berichtet: „Auch wir fassen traditionell die Leistungen der Familienhilfe und der Eingliederungshilfe zusammen und bieten stationäre und ambulante Hilfen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen unter einem Dach an.“

Nicht auf Menschen mit Behinderung begrenzt

Wichtig ist ihr dabei, dass Inklusion aber gerade nicht nur auf Menschen mit Behinderung begrenzt werde: „Inklusion bezieht sich auf alle Menschen mit ihren jeweiligen Besonderheiten.“ So berichtet sie von dem traumatisierten Mädchen, das erst während seines Aufenthalts in der Jugendhilfeeinrichtung gemerkt hat, dass es sich als Junge fühlt. Ziel von Inklusion sei es, dass jeder Mensch die Chance bekomme, sich auf seine Art zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit entwickeln zu können.

Auch für Arne Cammans, pädagogischer Leiter des Jugendhilfebereichs im FWZ, hat sich die Projekt-Teilnahme bereits gelohnt. „Wir können uns dadurch auf unserem Weg in eine inklusive Zukunft mit anderen Einrichtungen vernetzen, auf politischer und auf Verwaltungsebene austauschen und bekommen beispielsweise Infos zu Gesetzesvorlagen.“ Zudem sei das Projekt Schnittstelle zwischen denen, die in den Einrichtungen arbeiten, und denen, die die entsprechenden Gesetze machen und umsetzen. Der Diplom-Pädagoge warnt dennoch vor zu viel Euphorie: „Inklusion ist ein langer Prozess. Vielen Jugendämtern ist noch gar nicht klar, was da ab 2028 auf sie zukommt.“

Wie erfolgreich inklusive Jugendhilfe sein kann, zeigt die Geschichte dieses jungen Mannes: Mit acht Jahren wurde der heute 20-Jährige in die Kindergruppe JuLe1 aufgenommen. In seiner Familie konnte er nicht länger bleiben. „Anfangs fand er es doof, weil er von zuhause weg musste“, erinnert sich Sonja Sturny. „Aber dann hat er verstanden, welche Chance er bekommt.“ Seine Persönlichkeit habe sich in den Folgejahren immer mehr stabilisiert, ebenso die Familiensituation.

„Mit 17 Jahren hat sich der Junge dann sogar entschieden, in unser Internat mit gymnasialer Oberstufe zu wechseln“, erzählt die Sozialpädagogin und systemische Beraterin. Ab dann sei es auch wieder möglich gewesen, dass der Jugendliche die Wochenenden oder Ferien zuhause bei seiner Familie verbringen konnte. Und heute? Im Frühjahr wird der gehörlose junge Mann sein Abitur machen.