In Krisen hilft Dankbarkeit – auch mit Beten und Singen
Das Gute wahrnehmen und wertschätzen, darum geht es bei Dankbarkeit. Der Psychotherapeut Henning Freund sagt im Interview, wie man lernen kann, dankbarer zu sein und warum das helfen kann.
Herr Freund, wie würden Sie Dankbarkeit beschreiben?
Dankbarkeit als Lebenshaltung meint, dass man das Gute in der Welt wahrnimmt und wertschätzt, dass man sich der Tatsache bewusst ist, dass wir Menschen Dinge empfangen, die wir nicht selbst geschaffen haben. Dankbarkeit ist aber auch ein Gefühl, wenn uns andere etwas Gutes tun. Dankbarkeitsgefühle sind in der Regel positiv. Sie können aber auch negativ sein, zum Beispiel in Form von Scham oder Schuldgefühlen. Dankbarkeit heißt aber auch, zu handeln, also zum Beispiel „Danke“ zu sagen oder etwas zurückzugeben, auch unbeteiligte Dritten.
Gehört zu Dankbarkeit auch Vertrauen?
Vertrauen ist eine der Grundbedingungen dafür, Dankbarkeit als positive Emotion zu erleben. Vertrauen zu haben und eine sichere Bindung zu anderen aufbauen zu können, fördert Dankbarkeit.
Kann man Dankbarkeit lernen?
Zumindest teilweise. Wir haben dafür ein fünfwöchiges Dankbarkeits-Trainingsprogramm entwickelt, bei dem jede Woche ein Aspekt von Dankbarkeit eingeübt wird: positive Dinge des Lebens wieder wahrnehmen, das vorhandene Gefühl von Dankbarkeit intensivieren, auf die eigene Biografie blicken und Meilensteine von Dankbarkeit entdecken. Oder auch, Grundeinstellungen identifizieren, die Dankbarkeit verhindern können. In der Evaluation zeigte sich, dass vor allem besorgte und grübelnde Menschen von solchen Übungen profitierten.
Gibt es Zusammenhänge zwischen Dankbarkeit und Religion?
Studien zeigen, dass religiöse Menschen dankbarer sind oder zumindest sich selbst häufiger als dankbar einschätzen. In allen Religionen spielt Dankbarkeit eine zentrale Rolle. Übt jemand seinen Glauben auch praktisch intensiv aus, ist das einem Dankbarkeitstraining sehr ähnlich. Menschen, die regelmäßig beten oder religiöse Lieder singen, haben viel häufiger die Gelegenheit, Dankbarkeit zu praktizieren.
Kommen Menschen, die sich als dankbar einschätzen, besser mit Krisen zurecht?
Ja, wenn Menschen auf die Ressource Dankbarkeit zurückgreifen können, ist das in Krisen hilfreich. Wer eine dankbare Grundhaltung hat, dem gelingt es in der Krise, die Wahrnehmung der Fairness aufrechtzuerhalten. Das bedeutet nicht, eine rosarote Brille aufzusetzen und alles gut zu finden. Sondern die Fähigkeit, die Dinge wertzuschätzen, die einem auch in vermeintlich schlechten Zeiten geblieben sind.
Henning Freund ist Psychotherapeut und war bis 2023 Professor für Religionspsychologie in Trebur. Aktuell hat er eine Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie im Masterstudiengang „Psychotherapie“ an der Vinzenz Pallotti University in Koblenz-Vallendar inne. Außerdem ist er Mitglied im Fachreferat „Religiosität und Spiritualität“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Das Interview geht auf das Buch „Dankbarkeit in der Psychotherapie. Ressource und Herausforderung“ zurück. Es ist 2020 bei Hogrefe erschienen.