Guillaume ist Brandts „Mädchen für alles“. Dabei steht er seit einem knappen Jahr unter dem Verdacht, Stasi-Agent zu sein – und der Kanzler weiß das. Doch Brandt soll den Arglosen spielen, bis man ausreichende Beweise gegen Guillaume beisammen habe.
Brandt folgt damit dem Rat des obersten Verfassungsschützers Nollau und des politisch verantwortlichen Innenministers Hans-Dietrich Genscher. Dies gelingt Brandt um so besser, als er den Verdacht gegen Guillaume von Anfang an nicht ernst genommen und im Lauf der Monate verdrängt hat.
Der Kanzler ist in keiner guten Verfassung. Er steht noch immer auf dem Höhepunkt seines internationalen Ansehens, aber die Regierungsarbeit des zweiten Kabinetts Brandt geht allmählich aus dem Leim.
Die Ermittlungen gegen Guillaume treten auf der Stelle, und Genscher wird immer nervöser. Er setzt Nollau unter Druck, Guillaume entweder zu überführen oder aber die Ermittlungen einzustellen. Nollau, der wie Genscher um seine Karriere fürchtet, gibt den Fall trotz mangelnder Beweise an den Generalbundesanwalt ab. Der stellt einen Durchsuchungsbefehl aus und lässt das Bundeskriminalamt zugreifen, als der Verdächtige – obwohl er bemerkt hat, dass er observiert wird – aus einem Südfrankreich-Urlaub nach Bonn zurückkehrt. Günter Guillaume gibt sich, gegen jede Regel, sofort als „Bürger der DDR und ihr Offizier“ zu erkennen. Er wird samt seiner Frau Christel verhaftet. Die Vernehmer bittet er, mit dem Kanzler sprechen zu können. Als ihm dies verwehrt wird, schweigt er.
Nun befragen die Ermittler auch Beamte des Begleitkommandos, das für die Sicherheit des Kanzlers verantwortlich ist: Bei welchen Gelegenheiten war Guillaume dabei? Etwa wenn der Kanzler in Hotels oder im Sonderzug Besuche empfing, Hintergrundgespräche führte, besonders mit Journalistinnen? Was davon hat Guillaume mitbekommen und mutmaßlich nach Ostberlin gemeldet? So wird unversehens das Privatleben Willy Brandts zum Thema der Ermittlungen. Undeutlich bleibt zwar, wo in den Schilderungen der Sicherheitsbeamten die Grenze zwischen Realität und Phantasie verläuft. Aber so viel wird klar: Es soll der Referent und Reiseleiter Guillaume gewesen sein, der dem Kanzler „Frauen zugeführt“ hat.
Darüber informiert der Chef des Bundeskriminalamts, Horst Herold, den Innenminister, dann auch den Kollegen Nollau vom Verfassungsschutz. Nollau wiederum eilt zu seinem Freund und Gönner Herbert Wehner, dem er die vermeintlich dramatische Lage erregt schildert: Der Bundeskanzler sei erpressbar, die DDR-Führung könne mit diesen Sexgeschichten die Bundesregierung bis auf die Knochen blamieren. Nollau weiß nur einen Rat: Willy Brandt muss zurücktreten, bevor es zum Eklat kommt.
Wehner schweigt, aber es ist ein ungutes Schweigen. Er wird den Kanzler am nächsten Tag treffen.
Im Anschluss: 21.45 Uhr: Im Schatten der Macht (2/2)
Der Kanzler weiß nun Bescheid über das „Gespinst von blühender Phantasie und Halbwahrheiten“, das sich um ihn zusammenzieht. Seine Stimmungen schwanken zwischen Depressionen und Zuversicht.
Sogar Selbstmordgedanken wechseln abrupt mit Kampfeswillen. Kann Brandt mit einer Kabinettsumbildung zum Angriff übergehen? Genscher wird nicht freiwillig gehen, und Brandt kann ihn nicht zwingen, denn das würde das Regierungsbündnis mit der FDP gefährden.
Im Amt des Vizekanzlers und FDP-Vorsitzenden ist Genscher designierter Nachfolger von Walter Scheel, der fest entschlossen ist, sich schon in wenigen Wochen zum Bundespräsidenten wählen zu lassen.
Während sich die Anzeichen dafür mehren, dass die pikanten Storys der Leibwächter durch dunkle Kanäle der Geheimdienste bereits zur Opposition und damit auch zur Boulevardpresse durchgesickert sind, kommt es am Abend des 4. Mai 1974 zum Gespräch unter vier Augen zwischen Herbert Wehner und Willy Brandt während einer Klausur der SPD mit Gewerkschaftsführern in Bad Münstereifel.
Das Gespräch endet in eisiger Kälte. Willy Brandt hat nicht den Eindruck gewinnen können, von Herbert Wehner und der SPD-Fraktion den Rückhalt zu bekommen, den er gebraucht hätte, um die Affäre durchzustehen. Wehner hat ihn aufgefordert, selbst zu entscheiden, und zwar binnen 24 Stunden. Noch in der Nacht entschließt Willy Brandt sich zum Rücktritt und verkündet diesen Entschluss am nächsten Morgen der in Münstereifel versammelten SPD-Spitze. Helmut Schmidt, den Brandt als seinen Nachfolger benennt, verliert die Beherrschung: So will er nicht Kanzler werden! Es entgeht Brandt nicht, dass Wehner diesen Gesprächen meist schweigend beiwohnt.
Den Rücktrittsbrief an den Bundespräsidenten Gustav Heinemann schreibt der Kanzler schon am Abend des 5. Mai, aber er zögert auch am 6. Mai noch bis zum Abend, den Boten mit diesem Brief auf den Weg zu schicken. Brandts Widerstreit der Gefühle und Stimmungen ist nervenaufreibend für alle Beteiligten, nicht nur im Kanzleramt. Einmal erscheint auch Genscher im Vorzimmer, geht aber wieder, ohne Brandt gesprochen zu haben.
Es ist wohl Egon Bahr, Brandts engster politischer Freund, der die endgültige Entscheidung herbeiführt. Bahr rät zum Rücktritt, solange der Kanzler noch Herr seiner Entschlüsse ist und nicht von anderen aus dem Amt gedrängt wird. Eine Neuauflage der Schmutzkampagnen, die Brandt aus den Bundestagswahlkämpfen 1961 und 1965 zur Genüge kennt, würde er nicht mehr durchstehen. Aber niemand kann den zurückgetretenen Willy Brandt daran hindern, Führungsfigur der europäischen Sozialdemokratie zu werden.
Am Abend schickt Brandt den Amtschef Horst Grabert mit dem Rücktrittsbrief zu Heinemann und versammelt seine Getreuen zu einem Abschiedsdrink. Als er das Bundeskanzleramt verlässt, bittet ihn sein Chefleibwächter unter Tränen um Verzeihung: Er sei gezwungen worden, auch über den privaten Bereich des Kanzlers auszusagen.
In der Nacht, nachdem erste Rücktrittsmeldungen über die Ticker laufen, zieht ein Fackelzug von 100 jungen Menschen zur Dienstvilla des Kanzlers auf dem Venusberg. Willy Brandt zeigt sich nicht.
