„Ihr seid der Klangkörper!“

Ein großes musikalisches Ereignis steht bevor: Im Januar wird es zwei Aufführungen des Pop-Oratoriums „Luther“ in Hannover geben. Zu Besuch bei der ersten Probe für die 2000 Sänger.

Gemeinsam wird im vollen Stadthaus Burgdorf geprobt
Gemeinsam wird im vollen Stadthaus Burgdorf geprobtMichael Eberstein

Burgdorf. Gleich vier Proben gab es: zwei in der Stadthalle Walsrode, je eine im Expo-„Wal“ in Hannover und im StadtHaus Burgdorf (Region Hannover). Allein hier waren gut 400 Männer und Frauen, aber auch ganz junge Mädchen mit Herz und Seele dabei. Alle Stimmlagen sind gut besetzt, allenfalls im Bass könnten es ein paar mehr Stimmen als die gut zwei Dutzend sein.
Alle aber hatten offenbar schon fleißig geübt – zu Hause mit einer CD ihrer Stimmlage oder im heimischen Kirchenchor. Jedenfalls konnte Kirchenmusikdirektor Wolfgang Teichmann vom Michaeliskloster Hildesheim auf einer guten Grundlage aufbauen. „Insgesamt sind die Melodien ja auch nicht so schwer“, erklärte Teichmann zu Beginn, „aber Dieter Falk hat doch auch ein paar kleine Gemeinheiten eingebaut.“ Insbesondere der Zweite Sopran werde dabei öfter gefordert. Den Frauen und Mädchen dieser Stimme galt denn auch der erste Extra-Applaus an diesem Proben-Tag.
Teichmann machte von Anfang an deutlich, dass er nicht einzelne Liedpassagen üben, sondern am Klang insgesamt arbeiten wolle: „Ihr seid der Klangkörper!“, ermutigte er die Choristen. Was auf sie zukommt, erfuhren sie spätestens bei den ersten Playback-Einspielungen mit voller Orchesterbesetzung; da heißt es oft „Volle Kraft voraus.“

Präzise Aussprache gefordert

Doch nicht Lautstärke, sondern „mit Energie und Impuls“ solle gesungen werden, erklärte Teichmann den Sängerinnen und Sängern, kraftvoll, aber nicht schreiend. „Wir wollen im Januar in Hannover einen Superchor haben, dem man anhört, dass alle Pupillen weit geöffnet sind.“ Da ist vor allem präzise Aussprache gefordert, sagt der Chorleiter. Und Konsonanten wie -t oder -k müssten wie aus einem Mund gemeinsam erklingen, „nicht tausendfach“. Vor allem aber unterscheide sich das Pop-Oratorium vom üblichen Gesang einer Kirchenkantorei dadurch, dass auch der Körper eingesetzt werden müsse.
Das lässt Teichmann auch zu Beginn noch einmal üben: Die Knie werden leicht geknickt, und schon gelingt das federnde Mit-swingen bei den ansteckenden Rhythmen der Lieder, die vom Leben Martin Luthers erzählen. Später müssen die Chorsänger auch ein wenig mitspielen, etwa mit einem deutlichen Fingerzeig oder bei einem symbolischen Blattwenden. Auch das wird noch genauer einzustudieren sein. „Das wird nicht leicht“, sagt Teichmann, „vor allem darf das der Zuschauer nicht merken.“
„Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott. Und Gott war das Wort“ – so beginnt das Oratorium. Das wiederkehrende Kanon-Motiv mit dem Potenzial zum Ohrwurm ist erkennbar längst allen Teilnehmern bestens bekannt, gefeilt wird nur noch an den Einsätzen zur rechten Zeit. Und ein präzises Ende gibt es aber nicht; die einzelnen Stimmen sollen es „einfach auströpfeln“ lassen, rät Teichmann, „am Ende gibt es zwei Takte ‚Knautschzone‘, wo sich der Chor wieder sammelt.“

Poppige Melodien

Dann wird es ernst: „Durch päpstliche Bulle wurde Martin Luther mit dem Bann belegt…“ dröhnt es aus den Lautsprechern, unterlegt mit rockigen Klängen einer E-Gitarre. Dazu ertönt aber auch das deutliches Klicken eines Metronoms. „Lasst euch davon nicht stören“, erklärt Teichmann, „das hören bei der Aufführung nur wir Dirigenten.“ Das sei nötig, um in der großen TUI-Arena alle Musiker im selben Takt und Rhythmus zu halten.
Und noch während Teichmann spricht, stehen die meisten Chorsänger auf und beginnen zu buchstabieren: „L – U – T – H – E – R“. Jetzt spätestens zahlt sich aus, dass etliche der Sängerinnen und Sänger schon die Uraufführung vor einem Jahr in Dortmund miterlebt haben. „Wer ist Luther?“, singen sie. Eher zaghaft kommt deshalb kurz darauf die Frage einer Sängerin, wie das französische Fragewort „qui“ (wer) ausgesprochen werde müsse: „Wie ‚Ki‘“.
Immer wieder aber kommt Teichmann auf den Rhythmus der poppigen Melodien zu sprechen. „Den müsst Ihr einfach drinhaben, auf die Chorleiter ist da nicht unbedingt Verlass.“ In der Tat liegt die Betonung, der Schlag, nicht immer auf dem ersten Ton eines Taktes, sondern kommt etwas versetzt  – „offbeat“ eben. „Hört genau hin“, rät Teichmann, „wo ist die Eins?“

Viel Verantwortung

Das Zischeln der „Bevölkerung“ im zweiten Stück (Teichmann: „Das habt Ihr hoffentlich nicht geübt?!“) klappt problemlos, auch der Einsatz bei Buchstabe C mit den Worten  „Du bist hilflos ausgeliefert…“. Doch dann kommt für den Sopran 2 die knifflige Stelle mit „Frag nicht“ zu recht schrägen Tönen. Hier sind auch für Teichmann noch ein paar Unklahrheiten. Er rät generell an solchen Stellen ein „FF“ einzutragen: „Falk fragen“. In der Tat grummelt es in den Tiefen des Chores, als der Chorleiter locker darüber hinweggeht und das nächste Stück in Angriff nimmt.
Dafür verlangt Teichmann hier („In Worms ist Reichstag“) wie später auch an anderen Stellen mimische Unterstüzung des Textes: „‚Hier wird geliebt, hier wird gehasst‘ – das kann man doch nicht mit unbeteiligtem Ausdruck singen.“ Und Teichmann fordert vor allem die Bass-Sänger auf, „diese fiese Stelle mit dem Fis“ bei der Phrase „Die Stadt ist klein, der Spaß ist groß“ zu Hause zu üben, „da hört für euch der Spaß auf.“
Dem Alt geht es kaum anders; auch die tiefere Frauenstimme muss unvermittelt auf ein tiefes Cis fallen: „Das ist die entscheidende Stelle“, sagt Teichmann, „da lastet die ganze Verantwortung auf euren Schultern.“ Diese und ähnliche Stellen sollen die örtlichen Chorleiter mit ihren Sängerinnen und Sängern einfach noch einmal üben, üben, üben.

Aufpassen beim Einsatz

Und noch einmal bläut Teichmann die Frage ein: „Wo ist die Eins?“ Beim vierten Lied des Oratoriums gilt es nämlich wieder gut aufzupassen, vor allem beim Einsatz der „eigenartigen Abwärts-Tonleiter“, die Komponist Dieter Falk zu der Textpassage „hat er aufgedeckt“ vorsieht. Und in der Tat kommt der große Chor beim ersten Versuch noch etwas schleppend in Gang, aber schon nach einem zweiten Versuch fällt Teichmann aus dem vertrauten „Du“ lobend in ein „Sie“: „Super, meine Damen und Herren, gar nicht so schlecht für den Anfang.“
Kurz vor der Pause fragt der Chorleiter noch rhetorisch in die Menge: „Ihr habt doch hoffentlich auch Spaß dabei?“ Teichmann weiß, wie viel Konzentration die Proben kosten – vor allem wenn dann auch noch so komplizierte Textpassagen wie „Multiplikation bricht die Tradition“ präzise ausgesprochen beziehungsweise gesungen werden müssen. Doch selbst wer sich einmal verhaspelt, darf sich der Gnade sicher sein. Jedenfalls erklärt Wolfgang Teichmann: „Jetzt, wo Ihr Luther singt, wisst Ihr, dass Ihr die Absolution bekommt, egal, wie Ihr singt.“

Auch der Profi lernt noch

Der Lerneffekt ist aber auch bei dem Profi. „Ich habe bei der Auseinandersetzung mit dem Stück noch ganz viel über Luther und sein Leben erfahren, das ich vorher nicht wusste“, sagt Teichmann. Er hoffe, dass es auch den Zigtausend Zuhörern im kommenden Jahr so gehen wird.
Das Pop-Oratorium Luther wird in zwei Aufführungen am 14. und 15. Januar 2017 in der TUI-Arena zu hören sein. Anschließend gibt es weitere acht Aufführungen in bundesdeutschen Großstädten, bevor eine Aufführung zum Reformationstag 2017 in Berlin dem Spektakel einen glanzvollen Höhepunkt bereiten soll. Im Mittelpunkt der Handlung steht die historische Figur Martin Luther mit ihrer Forderung „Selber denken“ – ein Anstoß, der damals wie heute an die Verantwortung vor Gott erinnert, eigene Entscheidungen zu treffen. Das Oratorium lädt aber auch als „Projekt der tausend Stimmen“ zum „selber Singen“ ein.
Mehr Informationen zum Pop-Oratorium gibt es hier.