Historikerin Applebaum erhält Friedenspreis in Paulskirche

Anne Applebaum ist Historikerin. Doch mit ihrem Büchern zur Sowjetunion, der Ukraine und zu autoritären Tendenzen in Europa und den USA ist sie nah an der Gegenwart. Jetzt erhält sie den Friedenspreis des Buchhandels.

Ihre Welt sind nicht nur das Studierzimmer, Redaktionsstuben und Bibliotheken. Die Journalistin und Historikerin Anne Applebaum (60) ist extrem gut vernetzt in den europäischen und amerikanischen Eliten und kann auf ganz persönliche Informationen zurückgreifen: Verheiratet ist sie mit dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski, der beispielsweise die englischen Politiker Boris Johnson und David Cameron aus der gemeinsamen Studienzeit in Oxford kennt.

Applebaum, geboren 1964 in Washington, hat als Korrespondentin für große Zeitungen weltweit gearbeitet. Mit ihrem Ansatz aus persönlichen Erfahrungen, historischem Weitblick und theoretischer Analyse erforscht sie nicht nur die kommunistischen und postkommunistischen Systeme der Sowjetunion und Russlands, sondern legt auch die Mechanismen offen, die in der Gegenwart zu einer Rückkehr autoritärer Tendenzen führen. Am 12. Oktober erhält die Wissenschaftlerin mit jüdischen Wurzeln, die seit 30 Jahren in Polen lebt, in der Frankfurter Paulskirche den renommierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

In ihrem Buch “Die Verlockung des Autoritären” (2021) widmet sich Applebaum der aktuellen Verschiebung des politischen Diskurses nach Rechts in Europa und den USA. Die Pulitzer-Preisträgerin fragt: Was macht für viele Menschen die Rückkehr zu autoritären Herrschaftsformen so erstrebenswert? Und sie erklärt, welche Bedeutung dabei Soziale Medien, Verschwörungstheorien und Nostalgie haben und wie Elitenbashing die Wut befeuert.

Hinter der Verschiebung stecken aus Sicht der Historikerin Netzwerke von Journalisten, Wissenschaftlern, Intellektuellen und Politikern, die hinter Machtmenschen wie Putin, Erdogan und Orban die Strippen ziehen. Die Historikerin erzählt das am Beispiel ihres eigenen Freundeskreises – und zwar, als Journalisten, Politiker und Diplomaten in einem polnischen Landhaus 1999 gemeinsam Silvester feierten. Gemeinsam glaubten sie damals an die Demokratie und den Rechtsstaat. Mittlerweile, so erzählt sie im Buch, wechsele man die Straßenseite, wenn man einander sehe. Die Elite habe ganz offenkundig eine grundsätzliche “autoritäre Veranlagung”, fürchtet sie.

Auch in ihrem gerade erschienenen Buch “Die Achse der Autokraten” will Applebaum die Netzwerke korrupter Herrscher analysieren, die die Demokratie zerstören wollen. “Im Gegensatz zu militärischen oder politischen Bündnissen aus anderen Zeiten und Orten agiert diese Gruppe nicht wie ein Block, sondern eher wie eine Ansammlung von Unternehmen”, heißt es mit Blick auf Russland, China, Iran, Nordkorea, Venezuela, Kuba, Syrien und weitere Staaten. Ihre Beziehungen basierten nicht auf Werten, sondern auf gemeinsamen Interessen.

Mit Korruption, Zusammenarbeit von Militärs und Sicherheitsdiensten sowie Propaganda hielten sich diese Diktatoren gegenseitig an der Macht. Einig seien sie sich nur in einem Punkt: “in ihrer Abneigung gegen uns, die Bewohner der demokratischen Welt”. Applebaum fordert die Demokratien auf, ihre Politik grundlegend neu auszurichten, um eine neue Art von Bedrohung zu bekämpfen. Es brauche eine internationale Koalition, die gemeinsam etwa gegen Geldwäsche, Fake News und Unterwanderung vorgehe.

Weithin als Historikerin bekannt geworden ist Applebaum mit ihrem 2003 erschienenen Standardwerk “Der Gulag” über die sowjetischen Straflager. 2019 beschrieb sie in “Roter Hunger” Stalins Krieg gegen die Ukraine – und über den angeordneten Hungertod an mehr als drei Millionen Ukrainern 1932 und 1933, ohne den der gegenwärtige Krieg nicht zu verstehen ist.

Applebaum zieht klare politische Folgerungen: Sie wirbt seit Beginn des Überfalls auf die Ukraine für Waffenlieferungen an die Verteidiger. “Bis wir zu dem zurückkehren, was wir traditionell unter Frieden verstehen, wird es wohl ein langer Weg sein”, sagte sie im September 2023 der “Neuen Zürcher Zeitung”. “Russland ist eine frustrierte, revanchistische Macht, die mit der 1989/1991 entstandenen Ordnung in Europa unzufrieden ist und sie umstürzen möchte.”

Damit der Krieg endet, braucht es aus ihrer Sicht einen politischen Wandel in Moskau. Nötig sei, dass die russische Elite – die Armee, der Kreml – zu dem Schluss komme, dass der Krieg ein Fehler war und dass der Preis zu hoch ist.