Historiker Wessel: Russlands Irrweg noch lange nicht zu Ende

Was denkt sich Putin? Experten geben Erklärungsversuche für den russischen Ukraine-Angriff und wie es wohl weiter geht. Den Krieg „einzufrieren“, sei utopisch.

 Der Münchner Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel sieht Russland seit Zar Peter dem Großen (1672-1725) auf einem „expansiven Irrweg, der wahrscheinlich noch lange nicht zu Ende ist“. Imperialismus sei die durchgängige Linie bis zur Gegenwart, sagte der Wissenschaftler am Wochenende beim 61. Europatag der Paneuropa-Union in Kloster Andechs bei München.

Russland habe die ukrainische Identitätsbildung im 19. Jahrhundert wie schon zuvor die polnische Eigenständigkeit als tödlichen Angriff auf die Einheit der Slawen empfunden, so der Historiker. Entsprechend seien die Ukrainer schon damals nicht als Nation mit eigenem Recht, sondern als ein Werkzeug von „Polen und Jesuiten“ gegen Russland gesehen worden. Heute habe Putin dieses Narrativ auf den Westen und die Nato übertragen.

Die Osteuropa-Analystin Barbara von Ow-Freytag sagte, Putin verlange von seinem Volk inzwischen nicht nur Stillhalten, sondern Komplizität, was den Krieg betreffe. Der litauische Botschafter in Deutschland, Ramunas Misiulis, befand, der russische Staatschef habe sich in eine Sackgasse getrieben. „Er kann seine Politik nicht ändern, und er kann auch nicht von der Macht zurücktreten, denn das wäre nicht nur sein politischer, sondern höchstwahrschinlich auch sein tatsächlicher Tod.“ Daher könne der Krieg nicht „eingefroren“ werden.

Der katholische Bischof von Odessa, Stanislaw Szyrokoradiuk, sagte, bei der Besetzung der Krim 2014 sei der Krieg in Russland noch weithin als schlecht empfunden worden. Nach „acht Jahren ununterbrochener brutaler Hasspropaganda“ habe Putin die Zeit als reif empfunden, den Krieg im großen Stil zu beginnen. Dabei sei er auch Opfer der eigenen Lügenpolitik geworden. Seine Leute in der Ukraine hätten ihm versichert, dass die russischen Soldaten dort mit Blumen empfangen würden.

Der Bischof schilderte auch das Dilemma der katholischen Kirche in den besetzten Gebieten und in Russland. Sie stehe vor der schweren Entscheidung, zu schweigen und weiter für die Gläubigen zur Verfügung zu stehen oder die Wahrheit zu sagen und damit Repressalien auszulösen. Dies sei auch der Hintergrund der Äußerungen von Papst Franziskus zu diesem Thema.

Der Präsident der Paneuropa-Union Deutschland, Bernd Posselt, sagte, jeder Staat, der der Ukraine lebensnotwendige Luftabwehrsysteme und Munion verweigere, begehe „Beihilfe zum Völkermord durch Unterlassen“.