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Historiker und Buchautor Garton Ash wird 70 Jahre alt

Er ist einer der führenden Intellektuellen Europas. Sein Rat gilt etwas bei Regierungen. Die wissenschaftliche Karriere von Timothy Garton Ash begann in Deutschland.

Er ist ein Grenzgänger zwischen Journalismus und Wissenschaft. Timothy Garton Ash ist ein europäischer Intellektueller par excellence. Seit Jahrzehnten überschreitet er die Grenzen zwischen Ost und West und denkt über Europa und seine Möglichkeiten nach. Er bezeichnet sich selbst als den “europäischsten Briten, den es gibt”. Am Samstag wird er 70 Jahre alt.

Wie kein anderer habe der in London geborene Garton Ash Europas Wachsen und Werden in den vergangenen vier Jahrzehnten erlebt, erforscht und beschrieben, würdigte ihn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum 65. Geburtstag. 2023 hat der Brite mit dem Buch “Europa. Eine persönliche Geschichte” einen ganz persönlichen Erfahrungsbericht vorgelegt. Er beginnt 1944, als sein Vater als Soldat in der Normandie landet, und endet mit dem Nachdenken über Russlands Angriffskrieg in der Ukraine.

Seine Karriere hängt eng mit Deutschland zusammen. “Thomas Mann ist schuld an meinem Interesse an Deutschland”, erklärte er einmal. Wegen seiner Forschungen zum Widerstand gegen Hitler kam der Historiker aus Oxford Ende der 1970er-Jahre nach Berlin. Statt aber eine Doktorarbeit über Berlin unter Adolf Hitler zu schreiben, arbeitete Garton Ash an einem Buch über “Berlin unter Honecker”.

Er hatte entdeckt, “dass jenseits der Berliner Mauer im kommunistisch beherrschten Ostdeutschland lebendige Menschen mit demselben Dilemma zwischen Widerstand und Kollaboration zu kämpfen hatten”. Da er im damaligen Ostblock als Gelehrter mehr Freiheiten hatte als ein Journalist, beschäftigte er sich auch mit Dissidenten im kommunistisch regierten Mitteleuropa, reiste durch Polen und die Tschechoslowakei. Für den “Spectator” schrieb er unter Pseudonym Beiträge zur Situation im Ostblock. Garton Ash wurde zu “einem der bedeutendsten Chronisten und publizistischen Begleiter der Freiheitsjahre 1989/90”, hieß es zur Begründung, als der Brite 2017 den Karlspreis der Stadt Aachen erhielt.

Am 24. März 1990 gehörte Garton Ash zu den Deutschland-Experten, die von der von Margaret Thatcher geführten britischen Regierung auf deren Landsitz Chequers zu einer Tagung eingeladen worden waren, um über die Folgen einer deutschen Wiedervereinigung zu sprechen. Sein Bericht über die kritische Haltung Thatchers zur deutschen Einheit löste einen Skandal aus.

Europa – das ist aus Sicht des Wissenschaftlers in allererster Linie eine gelebte Erfahrung. “Junge Europäer haben keine Ahnung, wie weit auseinander europäische Länder noch bis in die 70er-Jahre lagen: Passkontrollen, Geldwechsel, Devisenkontrolle. Alles war kompliziert.”

Dabei bleibt das Zusammengehörigkeitsgefühl aus seiner Sicht ziemlich beschränkt. “Bei meinen vielen Reisen während 50 Jahren habe ich festgestellt, dass das Einzige, was alle Europäer gemeinsam haben, Amerika ist”, schrieb er 2023. Jeder kenne den US-Präsidenten oder Netflix. “Wenn dann aber Wahlen sind in einem europäischen Nachbarland, kriegen das die wenigsten mit.”

Zugleich ist Europa immer stärker gefordert. Zu besichtigen ist das Ende der liberalen Friedensordnung in Europa und der Welt. Durch Donald Trump sei der “transatlantische Westen” stark bedroht. Europa müsse zu neuer Selbstbehauptung finden – und schicke sich gerade an, seine Selbstverteidigungsfähigkeiten zu stärken. Nach den Worten des Wissenschaftlers bestimmt nicht mehr der Westen über die Agenda der Weltpolitik. Zum ersten Mal besitzen die Großmächte China, Indien, Russland und Mittelmächte wie die Türkei, Südafrika oder Brasilien zusammen die wirtschaftliche, politische und militärische Macht, um den Westen auszubalancieren.

Den Beginn des Wandels sieht er – laut einem “Spiegel”-Interview im Januar – im Irakkrieg 2003. “Er steht für ein neues Selbstverständnis der Vereinigten Staaten, für ihre Hybris, ihren Hochmut.” Ein Wendepunkt sei auch das Jahr 2008, als Russland Georgien angriff und die globale Finanzkrise begann. “Es kam zu einer Kaskade von Krisen, die innenpolitisch Skepsis gegenüber der Demokratie weckten und den Populismus in vielen Ländern befeuerten.”

Dass sich etwa in Polen und Ungarn die Stimmung gegen die EU gerichtet hat, hat nach Ansicht von Garton Ash auch mit Unterlassungen der Europäer zu tun: “Polen hat sein Bruttoinlandsprodukt in den letzten 30 Jahren um 800 Prozent gesteigert”, betont er. “Der große Fehler war, zu übersehen, wie hoch der soziale Preis war, den diese Gesellschaften zahlten.” Viele Menschen fühlten sich ignoriert, nicht respektiert und benachteiligt.