Historiker Karl Schlögel über Sowjet-Erbe und US-Wahlen

Der renommierte Osteuropa-Experte Karl Schlögel ist nicht nur ein Kenner der russischen Geschichte. Zuletzt hat er sich auch intensiv mit den USA beschäftigt – und erinnert sich an vergangene Befürchtungen.

Am 25. November erhält der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel in Düsseldorf den Gerda-Henkel-Preis. In “Das sowjetische Jahrhundert” beschäftigte sich der 76-Jährige mit der “Archäologie einer untergegangenen Welt”, in “Der Duft der Imperien” erzählte er die Geschichte des Parfums Chanel No. 5 und des sowjetischen Gegenstücks “Rotes Moskau”. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch “American Matrix. Besichtigung einer Epoche”. Um die beiden Supermächte des 20. Jahrhunderts, die Sowjetunion und die USA, geht es auch im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Und um Wladimir Putin und Donald Trump.

KNA: Herr Professor Schlögel, wenn man sich die Geschichte Russlands und der Sowjetunion anschaut, drängt sich der Eindruck auf, als ziehe sich Gewalt der Herrschenden wie ein roter Faden durch diese Geschichte. Woher kommt das?

Schlögel: Es gibt tatsächlich eine lange Tradition der Allmacht des Staates und der Ohnmacht der Gesellschaft. Das wiederum hat etwas zu tun mit der Gestalt des riesigen Imperiums. Eine starke zentrale Macht wurde immer als Voraussetzung für Fortdauer und Zusammenhalt des russischen Reichs betrachtet. Andere gesellschaftliche Institutionen konnten sich nur an der Peripherie und außerhalb der Machtzentren herausbilden. Hinzu kamen weitere Faktoren, die diese Tendenz verstärkt haben.

KNA: Welche?

Schlögel: Bis ins späte 19. Jahrhundert war beispielsweise die Leibeigenschaft eine feste Institution. Im 20. Jahrhundert kam es dann zwar in Ansätzen zu einer Stärkung von demokratischen und zivilgesellschaftlichen Kräften an der Basis. Aber diese Prozesse wurden immer wieder unterbrochen und rückgängig gemacht.

KNA: Wie äußerte sich das?

Schlögel: Allein in meiner Lebenszeit konnte man das zumindest zweimal erleben: In den 60er-Jahren, als eine Art politisches Tauwetter einsetzte, und in den 80er-Jahren mit der Perestroika unter Michail Gorbatschow. Jedes Mal wurden diese Aufbrüche zunichte gemacht durch einen Prozess der gewaltsamen Gleichschaltung. Das ist wirklich tragisch, und es ist offensichtlich, dass mit dem Krieg gegen die Ukraine das Gewaltpotenzial innerhalb Russlands zunehmen wird. Tausende von Soldaten werden irgendwann von der Front zurückkehren. Was das für Konsequenzen haben wird, lässt sich jetzt noch gar nicht abschätzen.

KNA: Welche Rolle spielt bei alledem die orthodoxe Kirche?

Schlögel: Es gab ja eine Philosophie der Symphonia, also des Zusammenklangs von weltlicher und kirchlicher Macht, die noch aus der byzantinischen Tradition stammt.

KNA: Das heißt…

Schlögel: …dass es nie zu einer wirklichen Trennung dieser beiden Sphären kam. Unter Putin ist das besonders krass hervorgetreten. Der Moskauer Patriarch Kyrill hat vorbehaltlos den Krieg gegen die Ukraine gutgeheißen und ihm sakrale und spirituelle Weihen zukommen lassen. Das ist aus Sicht der russischen Regierung sehr wichtig für die psychologische Vorbereitung und Begleitung des Krieges. Zugleich zeigt sich darin ein Versagen der zivilisatorischen und friedensstiftenden Mission, die Kirchen normalerweise zukommt. Kyrill spricht ja von einem Heiligen Krieg gegen den satanischen Westen. Wie sich das Oberhaupt des Moskauer Patriarchats mit den Rechten von Homosexuellen und Fragen der geschlechtlichen Vielfalt befasst, zeigt, dass er offensichtlich nichts Wichtigeres im Sinn hat als die Kritik an einer offenen Gesellschaft, die er im Westen verkörpert sieht.

KNA: An welchen historischen Vorbildern orientiert sich Putin?

Schlögel: Ich glaube, dass man Putin und seine Regierung nicht angemessen verstehen kann, wenn man ihn einfach als Fortsetzung einer zaristisch-imperialen Tradition begreift.

KNA: Sondern?

Schlögel: Ich denke, dass die Herausforderung gerade darin besteht, ihn als eine wirklich neue Figur zu verstehen, die hervorgegangen ist aus dem Zerfall des russisch-sowjetischen Imperiums. Man findet bei ihm einerseits vormoderne, autoritäre und archaische Elemente. Andererseits ist er jemand, der gewieft ist und virtuos mit den Mitteln der postmodernen medialen Choreographie umgehen kann. Das macht die Auseinandersetzung mit Putin so schwierig.

KNA: Sie erhalten in Kürze den Gerda-Henkel-Preis, mit 100.000 Euro die hierzulande höchste Auszeichnung für Geisteswissenschaftler. Wie geht es der Geschichtswissenschaft an den deutschen Universitäten?

Schlögel: Angesichts der Brüche oder der Auflösung des alten Erfahrungshorizonts sind wir herausgefordert, alles noch mal neu durchzudeklinieren. Das ist eine große Herausforderung, vielleicht sogar Überforderung in mancher Hinsicht, aber es ist auch eine großartige Chance.

KNA: Was bedeutet das für Ihre eigene Arbeit?

Schlögel: Die Besetzung der Krim 2014 durch Russland war ein ungeheurer Schock. Aber man lernte dadurch, dass man noch einmal auf die Schulbank zurück muss. Dass man sich damit beschäftigen muss, dass es die Ukraine gibt, eine ukrainische Geschichte, eine ukrainische Nation. Das ist ein Feld, das innerhalb unserer Disziplin über Generationen hinweg vernachlässigt wurde. Aber das gilt auch für eine neue Beschäftigung mit Russland. Es geht nicht darum, mal eben einen Schalter umzulegen. Das ist eine Generation-Aufgabe.

KNA: Sie haben sich nicht nur intensiv mit der sowjetischen Geschichte auseinandergesetzt, sondern in letzter Zeit auch verstärkt mit der US-amerikanischen. Wenn Sie auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen blicken: Droht der einzigen verbliebenen Supermacht der Untergang?

Schlögel: Eigentlich zeigt die Tatsache, wie offen das Rennen ist, dass wir es mit einem lebendigen und nicht mit einem starren, versteinerten oder gar autokratischen System zu tun haben. Aber natürlich hat es diese vom Kandidaten Trump betriebene Entfesselung von Gemeinheit und Niedertracht so noch nie gegeben. Das ist etwas Neues, mit dem man sich noch wird beschäftigen müssen.

KNA: Trotzdem – sehen Sie irgendwelche historischen Vorläufer oder gar Parallelen?

Schlögel: Mich erinnert das Ganze manchmal doch an den Wahlkampf, der im Schatten des Zweiten Weltkriegs unter Roosevelt geführt worden ist. Auch damals gab es Befürchtungen, ob sich die USA aus der Welt zurückziehen und sie dem Faschismus überlässt, während die amerikanische Gesellschaft nach innen diktatorische Züge annimmt.

KNA: Zurück ins Heute – bereitet Ihnen ein möglicher Wahlsieg von Trump Sorgen?

Schlögel: Die Probleme und Strukturen, die ihn groß gemacht haben, bleiben auch ohne ihn bestehen. Die zentrale Frage lautet, ob die amerikanischen Eliten die Kraft haben, sich mit Themen wie der Migration, der Reform des Bildungswesens oder den neuen Herausforderungen in einer veränderten Weltlage auseinanderzusetzen.

KNA: Migration ist nicht nur in den USA ein politischer Dauerbrenner. Warum wird Einwanderung oft als etwas Negatives gesehen?

Schlögel: Migration ist ein unbequemer Faktor. Mit Sozialromantik kommt man nicht weiter. Die Frage ist, ob sich die Gesellschaft den damit verbundenen Problemen stellt und produktiv damit umgeht. Oder ob sie davor kapituliert und daraus Funken der Selbsterhöhung schlägt gegenüber denen, die neu dazugekommen sind.

KNA: Was bedeutet das im Falle der USA?

Schlögel: Mir ist auch nicht ganz klar, wie man der übermächtigen Attraktion des reichen Amerika mäßigend begegnen kann, ohne den Gemeinheiten und Grausamkeiten der Vorschläge von Trump anheimzufallen. Wahrscheinlich aber ist der Umgang mit der Migrationsfrage ein ganz wichtiger Indikator dafür, wie es um die innere Verfasstheit der USA bestellt ist.