Hier gibt’s Raum für Klagen

Normalerweise fließt Wasser durch die kleinen grauen Plastikrohre. Doch jetzt liegen weiße Zettel darin, auf denen Menschen ihre Trauer niedergeschrieben haben.

Kirchenvorsteher Harald Freystein präsentiert die Klagemauer an der Markuskirch
Kirchenvorsteher Harald Freystein präsentiert die Klagemauer an der MarkuskirchSven Kriszio

Lehrte. „Es tut gut, die Trauer einmal aufzuschreiben und an Jesus abzugeben“, sagt Madita Jahns. Gerade ist der Gottesdienst vorbei, und die 14-jährige Konfirmandin steht zusammen mit zwei Freundinnen vor der Markuskirche in Lehrte. Eben hat sie einen Zettel zusammengerollt und in eines der Röhrchen gelegt. „Die Familie einer guten Freundin wohnt in Polen ganz in der Nähe der Grenze zur Ukraine. Sie hat Angst, und das beschäftigt mich“, erklärt Madita. „Ich will nicht, dass Krieg ist und meine Freundin so in Sorge ist.“

Auch Jolina Famulla hat einen Zettel geschrieben, in dem sie sich beklagt. „Viele Menschen sind bei Corona so unvorsichtig geworden“, sagt die 13-jährige Konfirmandin. Dabei seien derzeit so viele Menschen erkrankt, gibt Jolina zu bedenken. „Und wir müssen weiter in die Schule und die Klassenräume.“ Auch auf der Busfahrt halte sich kaum noch jemand an die Hygienemaßnahmen.

Jerusalem ist das Vorbild

Noch bis Ostern haben die Menschen in Lehrte Gelegenheit, ihre Sorgen und Nöte aufzuschreiben und anonym vor Gott zu bringen. Dazu ermuntert die Markusgemeinde, die im nördlichen Teil der Kleinstadt liegt. Nach Jerusalemer Vorbild hat sie bereits zum zweiten Mal eine Klagemauer am Glockenturm errichtet. Die Klagen können in graue Röhrchen gelegt werden. „Am Ostersonntag sollen alle Zettel ungelesen verbrannt werden“, sagt Pastorin Sophie Anca. Ob die Andacht öffentlich sei, wisse sie noch nicht.

In diese kleinen Röhren werden die Zettel gesteckt
In diese kleinen Röhren werden die Zettel gestecktSven Kriszio

Wie Nistkästen sehen die beiden Holzrahmen mit den mehr als 250 grauen Plastikröhrchen aus, in die hinein die Klagen gesteckt werden können. „Im Mauerwerk gibt es keine Zwischenräume, in die Zettel passen würden“, sagt Kirchenvorsteher Peter Angrejewski. Also habe er diese Konstruktion auf Bitten der Pastorin „zusammengezimmert“. Er habe handelsübliche Installationsrohre aus Kunststoff zu rund acht Zentimeter langen Stücken zersägt und in einem Holzrahmen befestigt, so der 70-jährige Elektroingenieur. Eine ehemalige Kirchenvorsteherin habe das Schild gemalt. Daneben hängt noch ein Holzkasten mit Zetteln und Stiften.

Die Idee zur Klagemauer hatte Pastorin Anca bereits im vergangenen Jahr. „Die Menschen litten so sehr unter der Pandemie“, so die 49-jährige Seelsorgerin. „Ich habe in Gesprächen viel Einsamkeit, Trauer und Schmerz erlebt. Corona setzt uns zu.“ In diesem Jahr komme noch der Krieg hinzu. „Besonders bei älteren Menschen brechen alte Erinnerungen und Gefühle auf. Sie wissen nicht, wohin damit.“ Und selbst bei erfreulichen Familienanlässen wie Taufen stünden bedrückende Erlebnisse im Raum.

Gespräch mit Freunden hat geholfen

Auch Edith Müller, die sich zeitlebens in der Kirche engagiert hat, nutzt den Raum zur Klage. „Ich bin sehr traurig über den Tod meines Mannes. Er war mein ganzes Leben“, erzählt die 78-Jährige. Vor genau fünf Jahren, neun Monaten und elf Tagen sei er gestorben, rechnet sie vor. Sie habe schon im vergangenen Jahr geklagt, wie schwer ihr das Weiterleben falle. Gott habe ihr geantwortet, dass sie fröhlich sein solle. „Aber ich werde ihm wohl wieder schreiben.“ Auch der Krieg beschäftige sie.

Maximilian Pörcher gehört zu denen, die noch keinen Zettel geschrieben haben. „Ich habe nichts zu beklagen“, sagt der 14-jährige Konfirmand. Auch der Teamer Ansgar Mellin zögert noch. „Klar gibt es Sachen, die mich belasten“, so der 16-Jährige. Vor allem Corona und jetzt auch der Krieg in der Ukraine würden ihm zu schaffen machen. „Das ist eine schwierige Zeit.“ Doch ihm helfe es, mit guten Freunden zu sprechen und gelegentlich zu beten.

Noch eine Klage

„Jeder hat seine Art, mit den Belastungen umzugehen“, sagt Kirchenvorsteher Harald Freystein. „Manche gehen spazieren, andere schreiben es auf.“ Doch es sei wichtig, dass die Kirchengemeinde ein niedrigschwelliges Angebot mache. Der 62-jährige Bauingenieur hat seine Klage schon formuliert. Aber wegen des Krieges werde er wohl noch eine weitere schreiben müssen.