Grenzverletzungen in Psychotherapien sind ein Tabuthema

Bundesweite Schätzungen gehen von sexuellem Fehlverhalten in rund 1.000 Fällen im Rahmen von Psychotherapien jährlich aus – obwohl private Kontakte untersagt sind. Einer dieser Fälle kommt nun vor Gericht.

Das letzte Gespräch habe sieben Minuten gedauert. Seine Frau habe ihm gedroht, ihn aus dem Haus zu werfen, sein Ruf als Arzt stehe auf dem Spiel, überhaupt sein ganzes Leben. So erzählt es Katharina Roth* im Rückblick – sie ist die Einzige, die sich zu dem Vorfall äußert. Sie dürfe ihn auf keinen Fall mehr in der Klinik aufsuchen. Dann habe Thomas Berger* ihr gesagt, sie solle den Besprechungsraum verlassen. Doch sie konnte nicht, blieb einfach sitzen, also sei er gegangen. Die Tür habe er offen stehen gelassen.

Zweieinhalb Jahre ist das her. Am 9. April werden sich Thomas Berger und Katharina Roth wieder begegnen. Vor dem Amtsgericht Tübingen. Die 34-Jährige hat den Arzt und Psychotherapeuten wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch in der Psychotherapie angeklagt. Laut Paragraf 174 c, Absatz 2, Strafgesetzbuch macht sich strafbar, wer als Psychotherapeut während eines Behandlungsverhältnisses sexuelle Handlungen an einer Patientin bzw. einem Patienten vornimmt.

Irrelevant sei, so schreibt es Roths Anwalt in der Strafanzeige, dass die Verletzte, also Roth, in die sexuellen Handlungen eingewilligt habe. Mögliches Strafmaß: bis zu fünf Jahre Gefängnis.

Katharina Roth leidet unter einer schweren Persönlichkeitsstörung. Als Kind ist sie missbraucht worden, sie hat Suizidgedanken, verletzt sich selbst. Seit 2014 ist sie deshalb immer wieder Patientin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen. Roth bezeichnet sich selbst als „Drehtürpatientin“: Auf Phasen zu Hause folgen Aufenthalte in der Klinik, sie wird entlassen und wieder eingeliefert oder bittet selbst um Aufnahme. Ein Teufelskreis.

Im Juli 2020 kommt es zu einer notfallmäßigen Krise, der Krankenwagen bringt sie ins Uniklinikum. Das Sorgerecht für zwei ihrer drei Kinder hatte sie damals verloren, und auch das mittlere Kind lebt zu dem Zeitpunkt nicht bei ihr.

Roth sagt, sie sei resigniert gewesen, sie habe Hilfe gewollt, aber nicht geglaubt, dass man ihr in der Klinik helfen kann: „Was sollte der 60. Therapeut anders machen als der 59.?“ Doch da habe plötzlich Thomas Berger in ihrem Zimmer gestanden. Groß, schlank, sportlich, älter als die meisten anderen Ärzte, die sie von der Station gekannt habe. Ob er sich kurz vorstellen dürfe? Er habe Termine frei, wenn sie wolle, solle sie sich melden.

Ab da ist Thomas Berger ihr Psychotherapeut. Erst in der Klinik, nach ihrer Entlassung drei Wochen später setzen sie die Sitzungen ambulant fort. Nach Angaben Roths erzählt er ihr, dass er eine zweite Facharztausbildung mache und dafür 200 Therapiestunden als Nachweis benötige. Über die Bezahlung müsse sie sich keine Gedanken machen. Er habe gesagt: „Natürlich nur, wenn Sie möchten, es ist ok, wenn Sie nein sagen.“ Doch Katharina Roth möchte – für sie ist Thomas Berger ein Geschenk des Himmels.

So kommt es, dass sie sich fortan mehrmals in der Woche sehen. Zuerst fanden die Gespräche laut Roth in seinem Behandlungszimmer in der Klinik statt. Er habe sie gebeten, am späteren Nachmittag zu kommen, da seien sie ungestört. Dann hätten sie begonnen, nach den Sitzungen Spaziergänge zu unternehmen, stundenlang. Er habe ihr seine Lieblingsplätze in Tübingen zeigen wollen.

Nachdem sie einmal besonders aufgelöst in eine der Sitzungen gekommen sei, sagt er: „Kommen Sie mit zu mir, wir trinken einen Absacker, damit sie etwas Gutes erleben.“ Sie habe gestutzt. Absacker?

Ihren Worten zufolge nicht das erste Mal, dass sie sich wunderte. Thomas Berger habe bei den Therapiegesprächen schnell begonnen, von sich und seiner Familie zu erzählen. Er habe auch Sätze gesagt wie: „Ich habe keine Erwartungen von Ihnen an meine Männlichkeit wahrgenommen.“ Roth sagt, sie sei sprachlos gewesen, natürlich sei er ein Mann, aber sie habe ihn nicht als solchen wahrgenommen. „Er war mein Gott in Weiß.“

Diesen Gott will sie nicht verlieren. Außerdem hatte Berger ihr versprochen, ein Gutachten zu schreiben, damit sie das Sorgerecht für ihre Kinder wiederbekomme. Sie müssten nur ein oder zwei Jahre intensiv arbeiten, dann bescheinige er ihr, dass sie erziehungsfähig sei. Also fasst sie sich ein Herz und fährt nach dem Therapiegespräch zu ihm in die Wohnung. Zum Absacker. In seinem Wohnzimmer steht ein blaues Sofa, dort sitzt sie, während er für sie beide kocht. Laut Roth gab es Rotwein, den sie nicht mochte, und sie habe gedacht: „Ich passe nicht in das Bild“.

Sie hätten sich nun immer in seiner Wohnung getroffen, manchmal auch in ihrer. An einem Abend Anfang Oktober habe sie während eines Gesprächs seine Hand in ihre Hand genommen und diese dann auf ihr Knie geführt. Sie habe Trost gesucht.

Was dann geschah, wertet die Staatsanwaltschaft nach Aussage von Katharina Roth als Vergewaltigung. Sie habe mehrmals gesagt, dass sie nicht wolle, dass sie ihre Periode habe. Sie habe ihren Kopf zur Seite gedreht, als er ihr einen Zungenkuss habe geben wollen. Er habe sie ins Schlafzimmer gezogen, sie ausgekleidet, sei in sie eingedrungen. Nach dem Sex sei er eingeschlafen. Sie habe neben ihm gelegen, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, sich zuzudecken, obwohl sie gefroren habe. Erst am nächsten Morgen sei sie nach Hause gefahren. „Von da an haben wir uns geduzt“.

Nach Angaben Roths behauptete Berger Anfang 2021, seine Frau ahne etwas, sie könnten sich nicht mehr in seiner Wohnung treffen, die Gespräche würden wieder in der Psychiatrie-Abteilung stattfinden. 30 Minuten Gespräch, dann Sex auf der grünen Liege, so erzählt es Katharina Roth. Sie habe gehört, wie draußen vor der Tür Menschen vorbeilaufen, wie Schlüssel in Schlössern gedreht werden. Er habe gewollt, dass sie ihn oral befriedige, das erste Mal habe es nicht geklappt, sie sei aus dem Zimmer zu den Patiententoiletten im Untergeschoss gerannt und habe sich übergeben. Im Flur sei ihr der Chefarzt begegnet, er habe gesehen, dass sie weine. „Aber das ist ja nichts Besonderes auf einer Psychiatrie, da weint ja ständig jemand.“

Im März sei sie schwanger geworden. Berger habe gewollt, dass sie das Kind abtreibt. Sie kauft einen Strampler, zeigt ihm diesen und sagt: „Wie süß“. Er habe gedroht, wenn sie nicht abtreibt, könne er das Gutachten nicht schreiben, dann sehe sie ihre Kinder nie wieder. Der operative Abbruch findet in einer Klinik in Reutlingen statt.

Fortan habe sich Thomas Berger reserviert gezeigt, Anfang Juni 2021 sei der Kontakt ganz abgebrochen. „Er hatte mich bei SMS und auf Whatsapp blockiert.“ Sie beschließt, ihn zur Rede zu stellen und fährt zur Klinik.

Sie sprechen sieben Minuten miteinander. Es ist das letzte Gespräch.

Die Anwältin von Thomas Berger lehnt eine Stellungnahme ab: „Wir machen bis zu dem Verfahren keine Angaben.“ Die Universitätsklinik, in deren Behandlungsräumen ein Teil der vorgeworfenen Missbrauchstaten – die Strafanzeige listet mehr als 50 auf – stattgefunden haben soll, will sich nicht äußern.