Gott und die Regenbogenfahne

In den Sommermonaten feiern Hundertausende Menschen in deutschen Städten und weltweit den „Christopher-Street-Day“ (CSD) mit Paraden und Demonstrationen. Auch kirchliche Gruppen sind dabei.

Die Regenbogenfahne ist zum Symbol der queeren Gemeinschaft geworden – wie hier in der evangelischen City Kirche Konkordien in Mannheim, wo sie für einen  Segnungsgottesdienst als Altartuch verwendet wurde.
Die Regenbogenfahne ist zum Symbol der queeren Gemeinschaft geworden – wie hier in der evangelischen City Kirche Konkordien in Mannheim, wo sie für einen Segnungsgottesdienst als Altartuch verwendet wurde.epd-bild /Thomas Lohnes

Der Name leitet sich ab von der queeren Bar Stonewall Inn, die in der Christopher Street im New Yorker Stadtteil Greenwich liegt. In dieser Bar trafen sich in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem schwule, lesbische und trans* Personen afroamerikanischer und lateinamerikanischer Herkunft (zum Wort „trans*“ siehe Erklärung unten). Diese und andere queere Bars wurden damals regelmäßig von der Polizei mit Razzien überzogen. Menschen wurden wahllos und grundlos festgenommen, bespuckt, verhöhnt und nicht selten waren sie in Polizeigewahrsam sexualisierter Gewalt ausgesetzt.

Der Anfang einer Befreiungsbewegung

Am 28. Juni 1969 wehrte sich erstmals eine kleine Gruppe schwuler, lesbischer und trans* Personen gegen diese Schikanen. Sie wehrten sich gegen die Polizeigewalt, demonstrierten gegen die Übergriffe und forderten Umstehende auf, sich mit ihnen zu solidarisieren. Es war der Anfang der lesbischen, schwulen und trans* Befreiungsbewegungen, die sich von New York aus in den nächsten Jahren in der ganzen Welt ausbreiteten. Zu Beginn der 70er Jahre begann man, den 28. Juni mit Christopher-Street-Day-Demonstrationen und Paraden als Jubiläumstag der Befreiungsbewegungen zu feiern.

Feiern und fordern

Bis heute prägen diese Demonstrationen und Paraden mehrere Aspekte: Zum einen ist es die politische Forderung nach Respekt, juristischer Gleichberechtigung und gesellschaftlichem Schutz von Minderheitengruppen in öffentlichen Räumen. Zum anderen kommen jeweils aktuelle politische Forderungen hinzu wie Ehe beziehungsweise Trauung für gleichgeschlechtliche Paare, Verabschiedung eines Selbstbestimmungsgesetzes für trans* Personen oder das Verbot von sogenannten Konversionstherapien, die ohne wissenschaftliche Fundierung vorgeben, queere Personen „heilen“ zu können. Weitere Aspekte sind Sichtbarkeit, kulturelle Veranstaltungen und gemeinsame Partys. Die juristischen und sozialpolitischen Errungenschaften der letzten Jahre, die queere Menschen zumindest in Westeuropa, Nordamerika, in Teilen von Lateinamerika und Asien mittlerweile erreicht haben, werden ausgiebig miteinander gefeiert – daher auch die Bezeichnung „Queer pride“, übersetzt etwa „Stolz, queer zu sein“.

Kerstin Söderblom

Seit den 2000er Jahren sind oftmals auch Mitglieder von Kirchengemeinden oder queere religiöse Gruppen mit dabei. Sie betonen, dass sich Queer- und Religiös-Sein nicht widersprechen. Queere Gläubige zeigen auch in religiösen Kreisen immer häufiger Gesicht und feiern Regenbogengottesdienste. Sie unterstreichen, dass queere Menschen auch in christlichen Kirchen, jüdischen und muslimischen Gemeinden oder in anderen religiösen Traditionen schon lange da sind und haupt-, neben- und ehrenamtlich aktiv sind. Sie fordern von ihren Religionsgemeinschaften Anerkennung und Gleichberechtigung.

Gottes Segen gilt allen – ohne Vorleistungen

Sie weisen darauf hin, dass nach biblischer Tradition alle Menschen Gottes Ebenbild sind (1. Mose 1,27f.). Alle Menschen sind danach einzigartig und mit einer unveräußerlichen Würde versehen. Gottes Segen wird jedem Menschen ohne Vorleistung und unabhängig von Hautfarbe, Geschlechtsidentität, Alter, sexueller Orientierung oder körperlicher Verfasstheit zugesprochen.

Darüber hinaus lesen sie biblische Texte kontextuell konkret aus queeren Perspektiven. Beim ersten Schöpfungsbericht im ersten Kapitel der Bibel klingt das so: Gott hat Licht und Finsternis, Tag und Nacht mit Morgen- und Abenddämmerung, mit Zwielicht und allem anderen dazwischen geschaffen. Genauso hat Gott Wasser und festes Land mit Mooren, Sümpfen und Marschland und mit allem anderen dazwischen gemacht. Ebenso hat Gott die Tiere im Wasser, auf dem Feld und in der Luft und alle anderen Lebewesen dazwischen geschaffen. Und ebenso hat Gott die Menschen männlich und weiblich geschaffen und alle anderen dazwischen.

Warum man Gott „queer“ nennen darf

Sie betonen, dass auch wenn im poetischen Gedicht des ersten Schöpfungsberichtes nur polarisierende Gegenüberstellungen vorkommen, diese doch alle Phänomene und Geschöpfe dazwischen umfassen. Denn Gottes Schöpfung ist alles in allem. Und alles dazwischen gehört dazu, auch nicht-binäre, trans* oder intergeschlechtliche Personen gehören dazu. Denn jeder Mensch ist Gottes Ebenbild.

Insofern ist Gott alles in allem und jenseits aller menschlichen Vorstellungen und Bilder. Nach diesem Verständnis kann Gott als „queer“ bezeichnet werden. Denn der Begriff „queer“ kritisiert alle zweigeschlechtlichen und heteronormativen menschlichen Kategorien. Gott ist in diesem Sinn ganz anders, jenseits von menschlichen Schubladen und unverfügbar für menschliche Normen und Bewertungen.

Nicht erst die prophetische Predigt des Südafrikaners und der „Person of Color“ Quinton Ceasar beim Schlussgottesdienst des Deutschen Evangelischen Kirchentag im Juni 2023 in Nürnberg zeigt allerdings, wie groß der Widerstand immer noch ist, wenn Minderheitengruppen wie Schwarze, queere, behinderte, geflüchtete oder anders diskriminierte Menschen selbstbewusst auftreten und Kritik äußern.

Quinton Ceasar prangerte in seiner Predigt strukturellen Rassismus an. Er formulierte deutlich, dass er sich als „Person of Color“ in Deutschland nicht sicher fühlt und sprach von der Mehrheitsgesellschaft als „Happyländer“, die die Gewalterfahrungen von Minderheitengruppen nicht sehen wollen. Und er sprach von einem queeren Gott. Insbesondere deswegen wurde Ceasar im Anschluss an die Predigt über Tage mit einem digitalen Shitstorm überzogen.

Hass und Hetze breiteten sich in Windeseile in den sozialen Medien aus, vor allem bei Menschen, die beim Kirchentag überhaupt nicht dabei gewesen waren. Ceasar bekam sogar anonyme Morddrohungen, sodass seine E-Mail-Adresse und die Webseite seiner Kirchengemeinde vom Netz genommen werden mussten.

Die Paraden bleiben notwendig

Wie recht Quinton Ceasar doch damit hatte, dass er sich in Deutschland nicht sicher fühlt! Nach einer Weile setzten online und offline auch Solidaritätsbekundungen ein. Auch die Geschäftsstelle und der aktuelle Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags und Evangelische Landeskirchen wie die Nordkirche und die Hannoversche Landeskirche distanzierten sich klar von Hass und Hetze und stellten sich eindeutig hinter den Prediger. Das ungute Gefühl bleibt aber, dass Minderheiten wegen Kritik an Rassismus, Antisemitismus, Queerfeindlichkeit und gruppenbezogenem Menschenhass massiv angegangen werden und im Zweifelsfall mit den Folgen allein umgehen müssen.

Insofern sind „Queer-Pride-Paraden“ nicht nur für religiöse queere Menschen weltweit nach wie vor ein wichtiges Zeichen dafür, dass sie Anerkennung und Respekt verdienen und dass Menschenrechte und Gleichberechtigung für alle selbstverständlich sein sollten, auch und gerade in kirchlichen und religiösen Kreisen.

Zum Weiterlesen: Kerstin Söderblom: Queersensible Seelsorge. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 163 Seiten, 25 Euro. ISBN 978-3-525-60013-9

Kerstin Söderblom ist Hochschulpfarrerin an der evangelischen Studierendengemeinde in Mainz, Dozentin und Autorin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind inter­kulturelle und geschlechtssensible Supervision und Seelsorge, Coaching und Konfliktberatung.