Gott ist die Liebe

Über große und kleine Wunder schreibt Ariane Baier. Sie ist Dompredigerin in Schwerin.

Der Predigttext des folgenden Sonntags lautet: „Freund, wie bist du hier hereingekommen?“ aus Matthäus 22, 1-14
Ich muss seit Jahrzehnten immer einmal wieder an sie denken. Sie wohnte in einem Dorf im Neubaublock. Immer wenn ich sie besuchte und auf die Klingel drückte, hörte ich sie schon an der Haustür singen. Sie sang wohl immer, wenn sie allein war. Ihre Stimme mit dem östlichen Klang drang durch alle Wände: „Gott ist die Liebe, er liebt auch mich.“
So sang sie Tag um Tag, Jahr um Jahr, die alte Frau, die ihr totes Kind aus dem Viehwaggon geschleift hatte und begraben musste, zwei Fuß tief irgendwo zwischen dem Ural und Kasachstan; die in Erdhöhlen geschlafen und in der Forst geschuftet hatte, oft ohne ein Stück Brot im Bauch. Die dann später, als das Leben sich normalisierte, zwei Männer hatte begraben müssen und erneut einen Sohn. Die im hohen Alter noch einmal die hart errungene Heimat in der asiatischen Steppe verloren hatte, um den Kindern nach Deutschland zu folgen. Aber wenn sie allein war, sang sie: „Gott ist die Liebe, lässt mich erlösen. Drum sag ichs noch einmal, er liebt auch mich.“
Sie ist mir ein lebendiges Gegenbeispiel zu dem Mann, von dem Jesus erzählt, der zum Fest kam und das ablehnte, was ein Gast damals selbstverständlich zu tun hatte: sich an der Tür von den Dienern festlich kleiden zu lassen. Auch ich sitze an der Festtafel des Lebens oft sehr grau und missmutig.
Es käme aber darauf an, bereit zu sein zur Freude, die Einladung Gottes zum Fest täglich neu zu entdecken; in Sonnenaufgang und Kinderkichern, im Brot auf dem Tisch und in den Augen des anderen. Alles sagt: Du bist eingeladen zur Freude, schon hier und dann ein für alle Mal.
Es gibt, so erzählt Jesus, keine Vorleistungen, die zu erbringen sind für die Einladung. Böse und Gute, alle sollen kommen. Die einzige Voraussetzung, am Fest teilzuhaben, ist, bereit zu sein zur Freude.
Also lernen wir es täglich neu: zu staunen über die großen und kleinen Wunder, mit denen wir beschenkt sind. Selbst wenn das Leben karg wird und leer, dies bleibt bestehen: Gott ist die Liebe. Sagen wir es uns immer noch einmal.
Unsere Autorin
Ariane Baier ist Dompredigerin in Schwerin.
Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.