“Goethes Familie in unserem Bestand ist bislang wenig erforscht”

Das Goethe- und Schiller-Archiv steht seit 1. Juni unter der Leitung des bislang bereits kommissarisch amtierenden Historikers Christian Hain. In seiner neuen Verantwortung wolle er die Digitalisierung der Bestände vorantreiben und die Forschung zur Familie von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), aber auch dem „Silbernen Zeitalter“ in Weimar rund um Franz Liszt (1811-1886) verstärken, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Zudem sei auch das Institutsarchiv der Vorgängerinstitution der Klassik Stiftung Weimar, der 1953 in der DDR gegründeten Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen deutschen Literatur in Weimar (NFG), ein historischer Schatz.

epd: Was ändert sich in ihrer Arbeit, nun da sie nicht mehr nur kommissarischer Leiter sind?

Hain: Zügig werde ich die Personalsituation der Direktion konsolidieren, damit das Team des Goethe- und Schiller-Archivs – sehr sportlich bis Ende 2024 – wieder vollständig besetzt ist. Ich freue mich, dass ich die im Interim angestoßenen Projekte und gestarteten Kooperationen fortführen kann. Dagegen werden andere, sehr archiv- und editionspraktische Arbeitszusammenhänge – etwa die Erschließung der bei Goethe eingegangenen Briefe – in meinem Arbeitsalltag in den Hintergrund treten.

epd: In welche Richtung wollen Sie das Archiv inhaltlich neu aufstellen und entwickeln?

Hain: Die Ziele des Archivs lassen sich aus dem Thüringer Archivgesetz ableiten: Wir bewahren, erschließen, erforschen und vermitteln die Bestände unseres Hauses. Im 21. Jahrhundert muss die Idee des Literaturarchivs neu gedacht werden.

epd: Was heißt das konkret?

Hain: Einerseits möchte ich die am Haus angesiedelten digitalen Editionen – allen voran das Propyläen-Projekt, aber auch Goethes Werke und seine naturwissenschaftlichen Schriften – zu einem zentralen Arbeitsschwerpunkt ausbauen. Zum Teil über Jahrzehnte eingeübte Arbeitsprozesse müssen angepasst werden. So ermöglicht der Einsatz von digitalen Werkzeugen die automatische Erkennung von Handschriften, von Personen, Orten und Werken oder von semantischen Strukturen in literarischen Texten.

epd: Sie wollen die klassische Buchausleihe durch digitale Angebote ersetzen?

Hain: Ja, ich denke da an die Forschungsdatenbank so:fie, die Internetplattform zu Goethes Biographica oder die hybride Werkausgabe von Goethes Faust, in denen die Digitalisate der Handschriften und die erarbeiteten Inhalte als Forschungsdaten zur Verfügung stehen. Forschende haben so die Möglichkeit, die Werke computergestützt auszuwerten und spannende Fragen auf einer umfänglichen Quellenbasis zu beantworten: Wie hat Johann Wolfgang von Goethe gearbeitet? Wer hat an Goethes Werk mitgewirkt? Welche Impulse hat Goethe aufgegriffen oder hat er sogar plagiiert?

epd: Sie sprachen einerseits die Technik an. Und was ist das Andererseits?

Hain: Andererseits sind die originären Aufgaben des Literaturarchivs vor dem Hintergrund des digitalen Wandels stärker in den Fokus zu rücken: Dazu gehört die zeitgemäße Bestandserschließung, die Sicherung von Kulturgut durch eine langfristige und priorisierende Digitalisierungsoffensive sowie die Weiterentwicklung des digitalen Services. Beispiele hierfür sind die Einführung eines digitalen Bestellsystems und die progressive Fortsetzung der eingeleiteten Open-Access-Strategie (Offener-Zugang-Strategie), die Nutzerinnen und Nutzer zu Recht von einem modernen Archiv erwarten dürfen.

epd: Wo wird Ihre Forschung Schwerpunkte setzen?

Hain: Neben der Fortsetzung der digitalen Transformation sowohl im Archiv- als auch im Editionsbereich möchte ich die Vielfalt und den Quellenwert der Bestände jenseits der großen Dichter sichtbar machen und sehe dabei drei zentrale Schwerpunkte: Erstens, eine tiefere Kenntnis über den bislang wenig systematisch erforschten Bestand von Goethes Familie, einschließlich seines Sohnes August, seiner Schwiegertochter Ottilie und seiner Enkel. Zweitens, das große Potenzial in Franz Liszts Nachlass für das 19. Jahrhundert. Unser Kooperationsprojekt mit dem Musikwissenschaftlichen Seminar in Heidelberg und der Sächsischen Landesbibliothek Dresden verzeichnet erstmals sämtliche Quellen und Werke des in ganz Europa berühmten Klaviervirtuosen und Weimarer Kapellmeisters. Perspektivisch soll im Verbund mit anderen Institutionen Liszts kulturhistorisch für Weimars „Silbernes Zeitalter“ relevante Korrespondenz, etwa auch die mit dem Weimarer Großherzog Carl Alexander (1818-1901) ediert werden.

epd: Und drittens?

Hain: Der mit Abstand größte Nachlass des Archivs ist das sogenannte Institutsarchiv. Darin enthalten sind die vier Jahrzehnte umfassenden Akten der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen deutschen Literatur in Weimar (NFG), einer Vorgängerinstitution der Klassik Stiftung Weimar. Die Dokumente versprechen wertvolle Erkenntnisse zur Geschichte des geteilten Deutschlands, zu Handlungsspielräumen im 20. Jahrhundert, zur internationalen Vernetzung der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten und auch zur Geschichte der Stiftung selbst.