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Gier schlägt Gewissen

Was wäre das schön, wenn wir uns am 20. November entspannt ins Sofa sinken lassen, den Fernseher anmachen und Fußball-WM gucken könnten. Aber daraus wird nichts. Denn das schlechte Gewissen zwickt, und diesmal zwickt es besonders stark: Gastgeberland Katar wird sich mit Hilfe vieler Millionen aus der Hand des Fußballweltverbands als strahlender, moderner, offener Staat darstellen – während in seinen Grenzen Menschenrechte mit Füßen getreten, Gastarbeiter wie Sklaven behandelt, Frauen, Andersgläubige und Homosexuelle unterdrückt und Oppositionelle eingesperrt werden.
Besonders widersprüchlich dabei: Sportfunktionäre, die sich sonst vor jeder Kamera für Fairplay und gegen jegliche Form der Diskriminierung auf dem Platz aussprechen,
leugnen vor denselben Kameras, irgendetwas mit den Problemen jenseits des Platzes zu tun zu haben. Da wird so offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen, dass es weh tut. Gier schlägt Gewissen.
Aber woher stammt eigentlich die Vorstellung, dass ein solches Verhalten Unrecht ist? Wer sagt unserem Gewissen, dass Menschen Rechte haben, die ihnen nicht genommen werden dürfen? Rechte, die für alle gelten müssen, egal wer sie sind, was sie glauben und wo sie leben? Und die zudem höher zu bewerten sind als das Recht, hemmungslos Geld zu scheffeln oder sich als Fußballer auf dem Platz zu
verwirklichen?
Eine Antwort, die sich aufdrängt, lautet: aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen, wie sie in Judentum und Christentum gelehrt wird. Denn wenn der Mensch – jeder
Mensch – ein Ebenbild Gottes ist, kommt ihm damit eine Würde und ein Wert zu, der von allen anderen Geschöpfen geachtet werden muss und nicht zerstört werden
kann. Das kommt der Idee der Menschenrechte, wie sie in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. Dezember 1948 formuliert wurde, schon recht nahe: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, heißt es da.
Aber ist diese Vorstellung so einzigartig, dass Judentum und Christentum ein Urheberrecht darauf beanspruchen können? Ein Blick in die Religionswissenschaft zeigt: Nein. Vorstellungen von Würde, Gleichheit und Freiheit aller Menschen gibt es im Kern in fast allen Religionen und Weltanschauungen, selbst wenn ihre  Anhängerinnen und Anhänger heute mit anderen Werten Politik machen. Auch die
Idee, dass Menschen füreinander verantwortlich sind, ist universell. Schwierigkeiten hatten und haben manche Religionen – auch die Kirchen – allerdings ausgerechnet
mit der Religionsfreiheit. Denn wer für sich in Anspruch nimmt, die einzig wahre Offenbarung zu kennen, tut sich schwer, anderen andere Glaubenshaltungen zuzugestehen.
Zurück zur Fußball-WM und dem Gedanken, dass die menschliche Gier eine der Hauptfeindinnen der Menschenrechte ist – im Großen wie im Kleinen. Konsumieren
sollte daher immer im Bewusstsein unserer Verantwortung als Menschen für Menschen passieren. Egal, ob beim Einkaufen, beim Reisen oder beim  Fußballgucken auf dem Sofa.