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Gesellschaftliches Pflichtjahr: Chance für Demokratie oder Zwang?

Der Göttinger Soziologe Berthold Vogel hat sich für den Vorschlag eines verpflichtenden „Gesellschaftsjahres“ in Deutschland ausgesprochen. Eine solche Verpflichtung ermögliche es Menschen, ihren Horizont zu erweitern, aus eigenen Kreisen herauszukommen und mit anderen Lebenswirklichkeiten konfrontiert zu werden, sagte der Leiter des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen an der Universität Göttingen im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Zurückhaltend äußerten sich dagegen Industrie- und Handelskammer und Diakonie in Niedersachsen.

„Wir leben in einer Zeit, in der Demokratien von innen und von außen unter Druck stehen“, sagte Vogel. Ein Pflichtjahr könne, sofern es attraktiv gestaltet sei, ein wichtiger Baustein einer resilienten Gesellschaft sein, die „Widerstandskräfte gegen eskalierende Ungleichheiten und soziale Gleichgültigkeit“ entwickeln müsse. „Wenn wir gesellschaftliche Chancen gerechter verteilen müssen, dann sollten wir auch gesellschaftliche Pflichten gerechter verteilen“, betonte der Professor. Freiwilligkeit höre sich zwar gut an, schaffe aber oft Ungerechtigkeit: „Freiwilligkeit ist selektiv, Pflicht ist universal.“

Die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ hatte im Juli die Einführung der von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vorgeschlagenen Dienstpflicht für 18- bis 25-Jährige in gemeinnützigen Einrichtungen, bei der Bundeswehr und in Blaulicht-Organisationen empfohlen. Freiheit und Verantwortung seien ebenso wie Rechte und Pflichten zwei Seiten einer Medaille, schrieben die Gründer der Initiative, Thomas de Maizière (CDU), Peer Steinbrück (SPD), der frühere Bundesverfassungspräsident Andreas Voßkuhle und die Verlegerin Julia Jäkel. Diese Wechselwirkung sei Voraussetzung einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft.

Auch der Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen, Hans-Joachim Lenke, begrüßt die Idee, das soziale Miteinander zu stärken. Er setzt dabei aber auf Freiwilligkeit: „Freiwilliges Engagement ist eine wichtige Säule für die Zivilgesellschaft“, sagte er dem epd. Die Einführung einer Pflicht ergebe aber erst dann Sinn, wenn alle, die ein Freiwilliges Soziales Jahr machen wollten, dies auch könnten. Stattdessen blieben aktuell trotz vorhandener Nachfrage Plätze unbesetzt, weil es zu wenig Unterkünfte gebe, die Anbindung an Bus und Bahn unzureichend oder die Vergütung zu niedrig sei. Ferner sehe er Herausforderungen, eine Dienstpflicht mit bereits bestehenden Ehrenämtern und beruflichen Tätigkeiten zu vereinbaren.

An diesem Kritikpunkt knüpft auch die Industrie- und Handelskammer Niedersachsen (IHK) an. Zwar habe die IHK bislang keine dezidierte Position zum Pflichtjahr, doch müssten in der öffentlichen Debatte die arbeitsmarktpolitischen und demografischen Folgen berücksichtigt werden. „Wenn jedes Jahr zehntausende Jugendliche und junge Erwachsene ein Jahr später in Ausbildung oder Studium einsteigen, würde das die ohnehin angespannte Lage weiter verschärfen“, sagte Monika Scherf, Hauptgeschäftsführerin der IHK Niedersachsen, dem epd.

Scherf gab weiter zu bedenken, dass auch die betriebliche Ausbildung für junge Menschen eine wertvolle Erfahrung in puncto Sozialkompetenz und Verantwortungsbewusstsein sei. Der Vorteil gegenüber einem Pflichtjahr: „Sie beruht auf eigener Motivation und trägt somit der Selbstverwirklichung junger Menschen stärker Rechnung.“