Artikel teilen:

Geist aus der Flasche

Genau 2.341 Arbeitssitzungen haben Vertreter von Staaten aus Ost und West in Genf zusammengesessen. Am 1. August 1975 unterzeichnen die Regierungschefs von 35 Staaten in der finnischen Hauptstadt Helsinki das, was ihre Vertreter ausgehandelt haben: die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).

Es ist die Zeit des Kalten Kriegs, Sicherheit und Zusammenarbeit sind alles andere als selbstverständlich: Ost und West stehen sich hochgerüstet gegenüber, getrennt durch den sogenannten Eisernen Vorhang.

In der KSZE-Schlussakte einigen sich die Teilnehmerstaaten auf eine Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen, sie wollen Wirtschaft und Handel fördern und Erleichterungen in humanitären Fragen erreichen. Man spricht vom „Geist von Helsinki“, der Ost und West näher zusammenbringen soll.

Die KSZE fügt sich ein in eine Phase der Entspannung während des Kalten Kriegs. Die „Neue Ostpolitik“ der sozialliberalen Bundesregierung bemüht sich ab 1970 um Vertrauen bei den kommunistischen Nachbarn Deutschlands. 1972 unterschreiben die USA und die UdSSR den ersten Salt-Vertrag („strategic arms limitation talks“), der die Nuklearrüstung begrenzt.

Vor allem die Sowjets dringen auf die KSZE. Sie wollen die Teilung Europas endgültig festschreiben und von der Stärke der westlichen Wirtschaften profitieren, denn ihre eigene ökonomische Basis wird langsam dünn.

Im Westen hingegen, vor allem in den USA, sind viele reservierter. Ronald Reagan, damals noch nicht US-Präsident, ätzt über die KSZE, sie sei nur eine Form von Appeasement, und sagt über die Schlussakte: „Ich bin dagegen, und ich denke, dass alle Amerikaner dagegen sein sollten.“ Für US-Außenminister Henry Kissinger ist die KSZE eine „Spielwiese der Europäer“. Dennoch starten die KSZE-Verhandlungen am 3. Juli 1973, und die USA sind dabei.

Zunächst scheinen die Kritiker recht zu behalten. Noch während der Verhandlungen stellen die Sowjets neue Mittelstreckenraketen auf. Um die in der Schlussakte erwähnten Freiheiten ihrer Bürger und die Bündnisfreiheit ihrer Vasallenstaaten scheren sie sich nach der Unterzeichnung nicht. Sie pumpen Geld und Waffen in Bürgerkriege in Angola, Afghanistan und am Horn von Afrika. Spätestens 1979, mit der sowjetischen Invasion in Afghanistan und der Nato-Nachrüstung als Reaktion auf die sowjetischen Mittelstreckenraketen, ist die Phase der Entspannung beendet.

Heute allerdings gilt die KSZE als Sieg des Westens, als dicker Nagel im Sarg der UdSSR. Denn mit den garantierten Menschen- und Freiheitsrechten müssen die Staaten des Ostblocks eine Kröte schlucken. Immer lauter fordern Dissidenten im Osten und westliche Regierungen ein, dass die kommunistischen Machthaber sich daran halten.

Diesen Teil des „Geists von Helsinki“ bekommt die UdSSR bis zu ihrem Ende nicht mehr in die Flasche zurück. Der Historiker Jan Lipinsky vom Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg erklärt, der Ostblock habe diese Dynamik unterschätzt: „Rückblickend führte somit primär die konsequent-beharrliche westliche Stärke zum Wandel.“

Ein Automatismus sei dies aber nicht gewesen, ordnet Lipinsky ein: „Die Ostblock-Implosion war 1975 und auch bis 1989 nicht vorauszusehen.“ Die „unbestreitbare Bedeutung“ des KSZE-Prozesses liege darin, dass er mitgeholfen habe, dass diese Implosion friedlich blieb, da sich durch die ständigen Gesprächskontakte Vertrauen über Blockgrenzen hinweg gebildet habe.

Seit 1995 hat die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit Sitz in Wien die Nachfolge der KSZE als feste Institution angetreten. Allerdings gilt die OSZE als zahnloser Tiger: Jeder teilnehmende Staat – zurzeit sind es 57 – hat ein Vetorecht, falls ein Vorhaben seinen Interessen zuwiderlaufen sollte.

Vor allem Russland nutzt sein Vetorecht ausgiebig. Seit 2021 hat die OSZE nicht mal mehr einen Regelhaushalt. Cornelius Friesendorf, Leiter des Zentrums für OSZE-Forschung des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, beschreibt: „Bei OSZE-Treffen giften sich beide Seiten eigentlich nur noch an.“ Aber: „Immerhin sind sie noch in einem Raum.“

Einen eindeutigen Kipppunkt für diese Entwicklung sieht Friesendorf nicht. Revisionismus sei schon immer Teil von Putins Regime gewesen, sagt er. Doch erst mit der Stabilisierung der russischen Wirtschaft durch Öl- und Gasverkauf sowie nach einer Reform der desolaten russischen Streitkräfte sei Putin in der Lage, diesen Revisionismus umzusetzen.

Spätestens seit Annexion der Krim 2014 durch Russland ist einer der zentralen Punkte der Schlussakte Makulatur: die Unverletzlichkeit der Grenzen, die der UdSSR noch so wichtig war.

Als Blaupause für eine Wiederannäherung Europas und Russlands taugt die KSZE Friesendorfs Worten zufolge eher nicht. Dafür seien die alte UdSSR und das heutige Russland zu unterschiedlich. „Unter den Bedingungen des russischen Revisionismus kann man bestenfalls Risiken reduzieren“, sagt er. Dazu gehöre eine ausreichende Abschreckung – aber die KSZE-Schlussakte zeige eben auch, dass Abschreckung allein nicht reiche.

Ähnlich wie Friesendorf sieht das der Politologe Christopher Daase vom Peace Research Institute in Frankfurt am Main: „Es gehört schon viel Fantasie dazu, sich eine Revitalisierung der OSZE nach einem Kriegsende in der Ukraine vorzustellen.“ Die Idee der KSZE, durch schrittweise Kooperation eine Konfrontation aufzulösen, halte er aber nach wie vor für richtig: „Nur müssten dafür nach dem Krieg vermutlich neue Strukturen entwickelt werden.“