Geflicktes statt Neues in Chile

„Wir konnten das Schlimmste verhindern“, konstatiert Constanza Schonhaut froh. Die chilenische Aktivistin hat in den vergangenen Wochen mit weiteren Feministinnen gegen eine neue Verfassung gekämpft. „Der Entwurf hätte uns in Fragen der sozialen Rechte um ein Jahrhundert zurückgeschleudert.“ Am 17. Dezember lehnte die Bevölkerung Chiles zum zweiten Mal einen Vorschlag für ein neues Grundgesetz ab – diesmal, weil es zu sehr die Handschrift der ultrarechten Partei Republicanos trug.

Bereits im September 2022 scheiterte ein progressiver Verfassungsentwurf am Votum der Chileninnen und Chilenen. Die rechten Parteien sahen einen Großteil der Bevölkerung auf ihrer Seite und erschwerten die Arbeit der linken Regierung. „Nun hat die Bevölkerung der Rechten klar gesagt, wir wollen eure Ideen nicht“, sagt Schonhaut.

Auch Präsident Gabriel Boric sieht das so. Wenige Stunden nach Verkündung der Ergebnisse des zweiten Referendums erklärte er den Verfassungsprozess für gescheitert. „Die Politik hat es nicht geschafft, eine Verfassung für alle zu schreiben“, sagte er und versicherte, unter seiner Präsidentschaft werde es keinen neuen Versuch geben. Damit bleibt die 1980 von Diktator Augusto Pinochet eingeführte Magna Carta bestehen.

Schonhaut, die für die Partei des Präsidenten, Convergencia Social, im ersten Verfassungskonvent saß, hat Verständnis für diese Entscheidung. „Die Menschen sind müde und haben keine Kraft für einen neuen Anlauf“. Die Regierung müsse nun mit einzelnen Gesetzen gewisse Reformen vorantreiben.

Genau dies kündigte Regierungssprecherin Camila Vallejo noch am Wahlabend an. „Der Traum eines besseren Chiles bleibt bestehen“. Nach den chilenischen Sommerferien Mitte März sollen zwei Reformpakete zur Abstimmung in den Kongress eingebracht werden. Eine Steuerreform, um das Sozialsystem auszubauen, und eine Rentenreform, mit der erstmals seit der Militärdiktatur (1973-1990) wieder eine öffentliche Krankenkasse eingeführt werden soll.

„Ein Teil der Bevölkerung möchte keinen Wandel, weder nach links noch nach rechts“, zeigt sich der 30-jährige Lehrer Francisco Hidalgo pessimistisch. Chile habe sich während der Pandemie in eine Gesellschaft verwandelt, die vor allem Angst habe. Dabei sei „keine einzige der Forderungen der Proteste von 2019 bislang umgesetzt“, sagt Hidalgo, der damals auch demonstriert hat.

Millionen Chileninnen und Chilenen forderten ab Oktober 2019 in wochenlangen Protesten einen Ausbau staatlicher Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssysteme, ein Ende der während der Diktatur verankerten neoliberalen Wirtschaftspolitik und eine neue Verfassung. Im November 2019 einigte sich eine Mehrheit der Parteien auf einen verfassungsgebenden Prozess – mit dabei: der damalige Parlamentarier und heutige Präsident Gabriel Boric.

„Wir wollten damals eine Verfassung schreiben, die nicht nur strukturelle Veränderungen herbeigeführt, sondern auch historisch ausgeschlossenen Gruppen erstmals eine Stimme gegeben hätte“, erläutert die Aktivistin Schonhaut, beispielsweise in Bezug auf die indigene Bevölkerung. Doch eine Mehrheit der Chileninnen und Chilenen lehnte den Verfassungsentwurf am 4. September 2022 an der Urne ab, weil er ihnen zu weit ging. Es wurde eine zweiter verfassungsgebender Prozess angestoßen. Im dafür gewählten Verfassungsrat besaßen die rechten und rechtsextremen Kräfte eine Zweidrittelmehrheit.

Zwischen dem ersten und zweiten verfassungsgebenden Prozess tat sich auch ein Generationenbruch auf. Laut dem Umfrageinstitut Cadem nahm eine Mehrheit der unter 34-Jährigen an den Protesten von 2019 teil, unterstützte den ersten Verfassungsentwurf und lehnte mit überdurchschnittlicher Mehrheit den zweiten ab. Dagegen ist vor allem jene Generation, die während der Militärdiktatur und in den ersten Jahren der Demokratie aufwuchs, konservativer eingestellt. Cadem zufolge wäre einzig bei Menschen im Alter zwischen 34 und 54 der zweite Verfassungsentwurf mehrheitsfähig gewesen.

Der Lehrer Hidalgo hofft derweil auf ein erneutes Erstarken der sozialen Organisationen, damit diese Druck ausüben können. Denn von der Regierung erhoffe er sich wenig. Diese habe ohnehin keine Mehrheit im Kongress „und hat sich in ihrer Rolle als Garant für Stabilität und des Status quo gut zurechtgefunden“, sagt er etwas enttäuscht.