Gedächtnisweltmeister empfiehlt gezieltes Gehirn-Training

Fit bleiben sollten wir nicht nur körperlich. Wer Gedächtnistechniken übt, erweitertet seinen gedanklichen Methodenkoffer, sagt der Neurowissenschaftler Konrad. Das kann man auch bei der Fußball-Europameisterschaft üben.

Boris Nikolai Konrad (40) ist promovierter Neurowissenschaftler und mehrfacher Weltmeister und Weltrekordhalter im Gedächtnissport. Auch wissenschaftlich beschäftigt er sich mit der Verbesserung der Gedächtnisleistung, derzeit am Donders Centre for Cognitive Neuroimaging im niederländischen Nijmegen. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur verrät er, wie man Weltmeister werden kann.

KNA: Herr Konrad, nicht wenige Fußballfans erinnern sich an bedeutende Fußballturniere, das Tor von Wembley 1966 oder das 7:1 gegen Brasilien bei der WM 2014. Haben Sie als Weltmeister im Gedächtnissport die Aufstellung der deutschen Weltmeisterelf von 1990 noch im Kopf?

Konrad: Nein, so einfach bleiben solche Daten und Namen auch nicht im Gedächtnis. Wenn ich diese Aufstellung im Kopf behalten wollte, müsste ich das immer wiederholen. Was länger nicht abgerufen wird, geht verloren – auch bei mir.

KNA: Aber manche Menschen können doch die entscheidende Passagen der Reportage von Herbert Zimmermann vom Endspiel in Bern 1954 fast auswendig daher sagen. Warum geht das?

Konrad: Da geht es nicht zuerst um Daten, Namen und Fakten. Da geht es in erster Linie um Emotionen und Bilder, mit deren Hilfe wir uns erinnern. Der Jubel über das entscheidende Tor von Mario Götze im Finale 2014, die Erinnerung daran, wo wir waren, als die Flugzeuge in das World Trade Center flogen. Das bleibt hängen.

KNA: In Ihrem 2022 erschienenen Buch “Mehr Platz im Gehirn” schreiben Sie, unser Gedächtnis sei nicht für moderne Informationsverarbeitung gemacht. Was genau meinen Sie damit?

Konrad: Den modernen Menschen gibt es je nach Schätzung etwa 200.000 bis 300.000 Jahre, aber wir sprechen erst seit 100.000 Jahren. Schrift gibt es wenige Tausend Jahre, und moderne Medien sind im Laufe unseres Lebens erfunden worden. Unser Gehirn konnte sich evolutionär gar nicht an das anpassen, was heute da ist.

KNA: Und warum erinnern wir uns so gut an Bilder und Emotionen?

Konrad: Die wichtigste Aufgabe für das menschliche Gehirn war über Jahrtausende nicht, sich Zahlen oder Einkaufszettel zu merken. Es ging darum, das Überleben zu sichern und neue Erlebnisse mit alten Erfahrungen abzugleichen. Ist das Tier, das da auf mich zukommt, gefährlich oder harmlos? Deshalb merken wir uns Bilder und Emotionen besser.

KNA: Wie genau sind diese Erinnerungen denn dann?

Konrad: Das Gehirn speichert solche Dinge nicht akkurat wie auf einer Festplatte ab. Wir rufen das auch nicht einfach eins zu eins ab. Das Gehirn konstruiert diese Erinnerungen immer wieder neu und ergänzt fehlende Teile irgendwie. Zeugenaussagen etwa nach Unfällen werden mit der Zeit immer unzuverlässiger. Wichtig dabei: Das Gehirn verändert seine Strukturen durch solches Training nicht oder kaum. Es geht eher darum, Neues mit Bekanntem zu verknüpfen und Beziehungen herzustellen.

KNA: Aber heutzutage ist es eben auch wichtig, sich Einkaufslisten, Geburtstage, Vokabeln oder Namen von Gesprächspartnern zu merken. Bringt da das Gedächtnistraining was?

Konrad: Wir können vieles technisch lösen. Auch ich nutze das Telefonbuch in meinem Smartphone gerne. Was wir an die Technologie auslagern, kommt aber nicht mehr in den Verbindungen unseres Gehirns an. Heute navigieren wir mit dem Navi. Aber der eigene Orientierungssinn kann leiden. Trotz der technologischen Fortschritte bleibt unser eigenes Gedächtnis unerlässlich und wir sollten es nutzen.

KNA: Welche Vorteile hat es, das Gedächtnis gezielt zu trainieren?

Konrad: Fit bleiben sollten wir nicht nur körperlich. Wer Gedächtnistechniken übt, erweitertet seinen gedanklichen Methodenkoffer. Leistungen wie das Merken von Namen, das freie Präsentieren, das Behalten von Inhalten aus Meetings werden einfacher. Das führt dann langfristig auch zu mehr Ideen, mehr Verständnis und mehr Selbstvertrauen. Wer sein Gedächtnis trainiert, verbessert die eigenen Chancen, auch im hohen Alter ein gesundes Gedächtnis zu haben.

KNA: Kann man die Lernerfolge beziffern?

Konrad: Jeder kann trainieren, das eigene Gedächtnis enorm zu verbessern, gerade beim Merken von Namen. In unseren Studien mit Gedächtnissportlern waren selbst die Schwächsten besser als die besten Untrainierten. Innerhalb von sechs Wochen, bei 20 Minuten Training am Tag, haben unsere Teilnehmenden im Schnitt ihre Leistung verdreifacht.

KNA: Jetzt müssen Sie natürlich noch eine Methode verraten, mit der wir alle für die nächste Gedächtnis-WM trainieren können…

Konrad: Da kommen wir wieder zum Beginn unseres Gesprächs. Wir erinnern uns am besten, wenn wir die Lerninhalte mit Emotionen oder Geschichten verbinden. Wenn Sie den Namen des Torwarts der ungarischen Nationalmannschaft, Peter Gulacsi, behalten wollen, sollten Sie ihn sich mit einer Schüssel Gulasch in den Händen vorstellen.

KNA: Und wenn ich mir gleich ein ganzes Fußballteam, mehrere Namen auf einer Party oder einen längeren Einkaufszettel merken will?

Konrad: Ich empfehle die sogenannte Routenmethode: Als Grundlage lege ich gedanklich einen Weg mit festen Punkten fest – etwa durch meine Lieblingsurlaubsziele oder einfach durch meine Wohnung. Zum Beispiel in der Küche: Kühlschrank, Ofen, Kaffeemaschine, Spüle, Mikrowelle. Möchte ich mir nun Tomaten, Bananen, Radieschen, Gurken und Seife für den Einkaufszettel merken, stelle ich mir lustige, absurde oder merkwürdige Bilder vor: Am Kühlschrank hängen vermatschte Tomaten, im Ofen stinken die verbrannten Bananen, ein Scherzkeks hat Radieschen statt Kaffeebohnen in die Maschine getan, lustige Gurken tanzen in der Spüle, und in der Mikrowelle schäumt ein Stück Seife.

KNA: Und wie lange bleiben Erinnerungen, die man mit dieser Technik lernt?

Konrad: Wir haben in unseren Studien festgestellt, dass diese Dinge direkt ins Langzeitgedächtnis gehen. Das heißt leider trotzdem nicht, dass ich das für immer weiß. Die 200 Namen, die ich mir innerhalb von 15 Minuten merken musste, wusste ich sicher auch einige Tage später noch, aber ein Jahr danach sind sie weg. Der entscheidende Punkt ist richtiges Wiederholen. Die sogenannte Gedächtniskonsolidierung passiert vor allem in den ersten Nächten nach dem Lernen im Schlaf. Daher sollte noch am gleichen Tag und am Tag danach alles, was wirklich dauerhaft ins Hirn soll, wiederholt werden.

KNA: Gibt es Übungen, die jeder täglich in den Alltag einbauen kann, um das Gedächtnis zu trainieren?

Konrad: Man kann sich selbst kleine Herausforderungen stellen, also zum Beispiel mal beim Lesen einer Zeitung oder eines Magazins die Namen der interviewten oder vorgestellten Personen lernen. Oder sich beim Lesen Bilder vorstellen, egal ob es E-Mail oder Bücher sind.