Geboren in einer dunklen Zeit

Vor 71 Jahren versuchten jüdische Flüchtlinge mit dem Schiff „Exodus“ nach Palästina zu entkommen – und landeten in Deutschland. Cwi Chatkewicz wurde deshalb hier geboren.

Treffen (v.l.): Heinz Ross vom Archivkreis der Kirchengemeinde Sengwarden, Alt-Bischof Jan Janssen als ehemaliger Sengwarder und die Besucher aus Israel, Haviva und Dr. Cwi Chatkewicz und Daniel Loewy
Treffen (v.l.): Heinz Ross vom Archivkreis der Kirchengemeinde Sengwarden, Alt-Bischof Jan Janssen als ehemaliger Sengwarder und die Besucher aus Israel, Haviva und Dr. Cwi Chatkewicz und Daniel LoewyDirk Gabriel-Jürgens

Sengwarden. „Der bewegendste Moment meines Besuches hier war in der Kaserne, dort, wo meine Eltern von November 1947 bis August 1948 lebten. Ich fühlte, dass sie dort zu mir sprachen“, sagte Cwi Chatkewicz zum Abschluss seines Besuches in Sengwarden. Der Israeli kam zusammen mit seiner Frau Haviva und seinem Freund Daniel Loewy in das Dorf, wo er in der Kasernenanlage die ersten Monate seines Lebens verbracht hat. Er wurde in den Städtischen Krankenanstalten geboren; ein Rest davon ist der heute mit Appartements überbaute Bunker, außerdem stehen auf dem einstigen Krankenhausgelände zwischen Rhein- und Weserstraße Wohnhäuser und die Gebäude des Pauline-Ahlsdorff-Hauses.
Die Eltern der Chatkewicz’ und von Loewy zählten zu den rund 4500 Flüchtlingen, die mit dem zum Gründungsmythos von Israel gewordenen Schiff „Exodus“ vom französischen Hafen Sète aus ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina gelangen und dort ihren Staat Israel gründen wollten.

Gewalt befürchtet

Die britische Regierung aber befürchtete gewaltsame Zusammenstöße mit der palästinensischen Bevölkerung und versuchte, die „Exodus“, ein von der jüdischen Geheimorganisation Hagana gekaufter amerikanischer Truppentransporter, abzudrängen. 
Ein britisches Kriegsschiff rammte die „Exodus“, die Flüchtlinge wehrten sich, vier Menschen starben. Die „Exodus“ wurde aufgebracht, die Flüchtlinge in Haifa festgesetzt und von dort mit drei Schiffen zurück nach Europa gebracht. Doch kein Land wollte sie haben. So entschied die britische Regierung, die Flüchtlinge, Juden aus 23 Nationen, nach Deutschland zu deportieren. 
Am 7. September 1947 mussten die Deportierten in Hamburg von Bord gehen und wurden zunächst in den Lagern Am Stau in Lübeck und Pöppendorf in der Nähe der Hansestadt untergebracht. Doch diese Quartiere waren nicht winterfest. Man suchte und fand geeignetere Unterbringungsmöglichkeiten in Emden, wohin die 2400 Flüchtlinge aus Pöppendorf gebracht wurden, und in der Kaserne in Sengwarden, worin 1800 Flüchtlinge aus dem Lager Am Stau ein provisorisches Quartier fanden.
Die Ankunft der fremden und zumeist fremdsprachigen Nachbarn wurde von den Sengwardern sehr wohl registriert und die Presse, soweit sie von den Briten schon wieder zugelassen war, berichtete über die Ankunft. Die Sengwarder und die Flüchtlinge lebten nebeneinander her, ohne viel Notiz voneinander zu nehmen. Doch kauften die Flüchtlinge im Dorf ein, buken ihr koscheres Brot beim Dorfbäcker Tjaden, mancher arbeitete bei einem Bauern, um zu lernen. Etliche machten sich schon bald darauf wieder auf einen unbekannten Weg, die meisten, um Israel zu erreichen. Als der Staat Israel vor 70 Jahren ausgerufen wurde, packten die verbliebenen Juden ihre Sachen und reisten am 17. August 1948 ab – für die meisten Sengwarder ebenso überraschend, wie sie gekommen waren.

Dorf besichtigt

Loewys Eltern waren nach Emden gebracht worden. Er wurde in einem Krankenhaus in Aurich-Sandhorst geboren. Während das Ehepaar Chatkewicz vor ein paar Tagen über Amsterdam einreiste, rollte Loewy die Geschichte seiner Eltern und ihrer Schicksalsgenossen vom französischen Sète aus auf. Cwi Chatkewicz war bereits in den 80er-Jahren einmal auf der Durchreise in Sengwarden, brachte damals jedoch noch nicht viel in Erfahrung. Jetzt half ihm das Internet.
Bei seiner Recherche stieß er auf den Geschichtsarbeitskreis des Dorfes und kam in Kontakt mit Janna und Brigitte Hackmann, Heinz Ross und Karl Theilen. Die wiederum zogen Jan Janssen hinzu, den emeritierten Bischof der Landeskirche Oldenburg und Sohn des langjährigen Pastors Rudolf Janssen.
Zusammen mit Volker Landig aus Jever, Pastor im Ruhestand und engagiert in der Gesellschaft für christlichjüdische Zusammenarbeit, Pfarrhelfer Helmut van der Wall und dem Lokalhistoriker Jens Graul besichtigten Haviva und Cwi Chatkewicz sowie Daniel Loewy Sengwarden, die St.-Georgs-Kirche, die ehemalige Bäckerei des Dorfes, die Mühle mit der Aussicht zum ehemaligen Lager und die Kaserne. Anschließend traf man sich im Gemeindehaus „Die Arche“. Chatkewicz und Loewy luden zum Gegenbesuch nach Israel ein.
Dieser Text ist am 29. Mai zuerst in der Wilhelmshavener Zeitung erschienen.