Gebet für Menschenrechte

Walter Jens kam 1977, Antje Vollmer 1987, Petra Kelly 1991, Joachim Gauck 2017. Die Liste, die Anke Caßens-Neumann auf ihrem Rechner abgespeichert hat, weist prominente Namen auf. Es sind die Namen der Rednerinnen und Redner des Gottesdienstes zum Buß- und Bettag, der seit 50 Jahren in der evangelischen Hamburger Hauptkirche St. Katharinen gefeiert wird. Für den kommenden Buß- und Bettag am 22. November um 19 Uhr hat sich Jan Philipp Reemtsma angekündigt.

Anke Caßens-Neumann ist Pastorin in der Kirchengemeinde Farmsen-Berne und Mitglied einer Hamburger Amnesty-International-Gruppe. 1977 gestaltete sie erstmals einen Bußtagsgottesdienst in der Hauptkirche mit. „Wir fühlten uns schon immer herzlich willkommen“, sagt sie. „Ich erlebe eine große Selbstverständlichkeit, dass wir diesen Gottesdienst in St. Katharinen feiern.“ Er findet in Kooperation mit der Hauptkirche statt, auch dieses Jahr wird Hauptpastorin und Pröpstin Ulrike Murmann mitwirken.

Gefragt nach der Geschichte des Gottesdienstes, fällt ein Name sofort: Ortrud Weckel. Ebenfalls Amnesty-Mitglied und Christin, für die die Verbindung von Glauben und politischem Handeln bis zu ihrem Tod 2020 selbstverständlich war. Deswegen regte Weckel die Gottesdienste in St. Katharinen an. Und trieb sie voran. „Sie hat an ihrem kleinen Schreibtisch die Leute handschriftlich angeschrieben“, schildert Caßens-Neumann.

Der Gottesdienst diene „zum Innehalten, zum Nachdenken, wofür wir stehen als Land und als Stadt“, sagt Caßens-Neumann. Der diesjährige Redner Jan Philipp Reemtsma ist Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Als die Amnesty-Gruppe sein gewähltes Thema für den Gottesdienst erfuhr, war die Überraschung groß. Es lautet: „Der politische Kampf für Menschenrechte hat kein religiöses Fundament.“

„Wir lassen unseren Rednern die größtmögliche Freiheit“, betont Caßens-Neumann. Zumindest im weitesten Sinne solle es aber mit Menschenrechten zu tun haben, ergänzt Amnesty-Mitglied Dalk-Ascan Bandilla, der den Gottesdienst mitorganisiert. Laut Caßens-Neumann vertrauen sie darauf, dass Reemtsma ein „kluger Mensch“ sei. Denn das Vortragsmotto widerspricht, so der erste Eindruck, der Haltung des Gottesdienstteams, dessen Engagement Folge und Ausdruck des Glaubens ist. „Für mich ist der Satz Jesu ‚Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan‘ zentral“, sagt Caßens-Neumann.

Amnesty-Mitglieder tragen während des Gottesdienstes Texte vor. Zumeist handele es sich um sogenannte „urgent actions“, sagt Bandilla. Darunter seien eilige Einsätze für politische Gefangene zu verstehen, denen dringend Zugang zu rechtlichem Beistand oder medizinischer Versorgung gewährt werden müsse oder die beispielsweise vor Folter oder Vollstreckung der Todesstrafe geschützt werden müssten.

In diesem Jahr werde es unter anderem um die Schicksale der Geschäftsfrau Emirlendris Benítez und des ehemaligen Gewerkschafters Guillermo Zárraga gehen, kündigt Bandilla an. Die beiden kritischen Stimmen wurden laut Amnesty von der venezolanischen Regierung im August 2018 bzw. im November 2020 willkürlich verhaftet.

Zudem werde Amnesty Petitionslisten zum Fall des Vietnamesen Trần Huỳnh Duy Thức vorbereiten. Der Blogger hatte politische und wirtschaftliche Probleme Vietnams thematisiert und war dafür laut Amnesty im Januar 2010 wegen „Aktivitäten zum Sturz der Regierung“ schuldig gesprochen worden. Während seines Prozesses habe er angegeben, unter Folter zu einem Geständnis gezwungen worden zu sein, hieß es.

„Der öffentliche Druck, der auf Initiative von Amnesty International erzeugt wird, hat in der Vergangenheit schon zahlreichen Gefangenen geholfen, von Hafterleichterungen bis hin zur Freilassung“, sagt Bandilla. Auch die moralische Unterstützung sei nicht zu unterschätzen.