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Forscher: Viele bewerten ihre seelische Gesundheit zu negativ

Wer nachts manchmal Schokolade nascht, hat nicht gleich eine Essstörung – und nicht jedes Kind, das häufig quengelt, hat ADHS. Ein Forscher sieht eine Tendenz zu solchen “Labeln”. Er bewertet die Entwicklung zwiespältig.

Immer mehr Menschen versehen ihre Eigenarten mit einem “psychologischen Label”: Das beobachtet der Psychologe Marcus Roth. “Wir neigen zunehmend dazu, unsere eigene seelische Gesundheit negativer einzuschätzen, als sie ist”, sagte im Interview der Zeitschrift “Psychologie Heute” (März-Ausgabe). Dadurch würden mitunter normale Phänomene in den Bereich des Krankhaften verschoben.

Wenn Menschen etwa eines Todesfall, eine Trennung oder einen Jobverlust erlebten, gehe es ihnen meist nicht gut – doch ihr Zustand bessere sich häufig von selbst, “meist innerhalb eines halben Jahres”, erklärte Roth. “Das ist das normale Leben mit seinen Aufs und Abs. Wir haben keinen Anspruch darauf, dass es uns immer gutgeht.”

Zugleich könnten heute mehr Menschen bestimmte Symptome bei sich selbst und bei anderen erkennen, weil es eine höhere psychische Gesundheitskompetenz gebe. Dies habe insofern Vorzüge, weil niemand jahrelang unter einer schweren Depression leiden sollte, ohne dass jemandem etwas auffalle, betonte der Professor für differentielle Psychologie.

Eine der Diagnosen, die in Psychotherapien besonders häufig gestellt werden, ist laut Krankenkassen die sogenannte Anpassungsstörung. Darunter versteht man laut Roth “eine psychische Reaktion auf eine Krise oder ein belastendes Ereignis von geringem bis mittlerem Ausmaß”. Vermutlich werde sie häufig dann diagnostiziert, “wenn die Symptomatik zu leicht ausgeprägt ist, um das klinische Bild einer spezifischen Störung zu erfüllen” – also etwa einer Depression oder Angststörung.

Auch in solchen Fällen könne der Leidensdruck groß sein, fügte der Forscher hinzu. Dann könnten jedoch “leicht zugängliche und kosteneffektive Unterstützungsangebote eine gute Alternative sein: Coaching-Sitzungen, Beratungen, Selbsthilfegruppen. Es sollten vorrangig diejenigen eine Therapie erhalten, die sie wirklich dringend brauchen.”