Flaute in deutschen Betten – woher kommt die Unlust?
Keine Zeit mehr für Zärtlichkeit? Kaum zu glauben, aber die Menschheit hat immer weniger Sex. Die Psychologin Julia Burghardt hat sich auf die Suche nach den Gründen dafür begeben.
Wer sucht, wird fündig. Quasi nichts, was es nicht gibt: Konstellationen, Stellungen, Praktiken – nie war die Gesellschaft in sexueller Hinsicht toleranter. Nie war mehr Sex verfügbar. Und doch: „Wir haben immer weniger Sex“, sagt Juliane Burghardt. Die 40-jährige Psychologin hat für ihr Buch „Alles kann, Nichts läuft“ internationale Studien von 2006 bis 2016 ausgewertet, und das Ergebnis ist eindeutig. „Die sexuelle Lust hat deutlich abgenommen, in allen Altersklassen und bei allen Praktiken.“
Freud`sche These widerlegt?
Weniger Penetration, weniger Masturbation, weniger Oralsex – während Menschen, die in einer festen Partnerschaft leben, es noch schaffen, einmal in der Woche intim miteinander zu werden, habe ein durchschnittlicher Single weniger als einmal im Monat Sex, erzählt Burghardt. „Damit ist die Freud`sche These eindeutig widerlegt.“ Ging einer der bekanntesten Psychiater der Vergangenheit, Sigmund Freud, doch stets davon aus: Wir hätten immer dann Sex, wenn wir die Möglichkeit dazu haben. Nur die Gesellschaft und deren Zwänge hielten uns davon ab.
Woran liegt es also? Unser moderner Lebensstil lasse einfach oft keinen Raum für Zärtlichkeit, sagt Burghardt. „Digitale Medien und allgemein die Smartphone-Nutzung haben die realen zwischenmenschlichen Kontakte stark reduziert. Weniger persönliche Treffen, das führt oft zu weniger Sex.“ Wenn wir mit Freunden oder Kollegen auf Distanz bleiben, ergäben sich einfach nicht die entsprechenden Möglichkeiten. Das sei aber nicht der einzige Grund für die Flaute in den Betten, sagt Burghardt. „Wir beobachten mit einer steigenden Zahl von Depressionen und Burnout auch immer häufiger eine gestörte Libido. Entweder durch die psychische Belastung an sich oder durch die Einnahme von Antidepressiva.“
Weniger Alkohol dafür mehr Pornografiekonsum
Einen eindeutigen Zusammenhang gebe es auch mit dem Trinkverhalten: Wir haben weniger Sex, weil durchschnittlich weniger Alkohol getrunken wird. Und dann ist da noch die Sache mit den Pornos. „Die Filmchen verfügen nur über sehr reduzierte oft realitätsferne Abläufe“, erklärt die Wissenschaftlerin. Das sei für die meisten Konsumenten selbst gar nicht umsetzbar und damit nicht der realen Zwischenmenschlichkeit dienlich.
Unabhängig von dessen Praxistauglichkeit ist die Nachfrage nach pornografischem Material allerdings konstant hoch. Das zeigen beispielsweise die veröffentlichten Nutzerstatistiken von PornHub, eines der größten Porno-Portale mit Sitz in Montreal, Kanada. Entsprechend ist die durchschnittliche Verweildauer auf der Seite im Jahr 2023 um 15 Sekunden gestiegen. Deutschland rangiert mit einem Durchschnitts-Pornowert von 10 Minuten und 31 Sekunden auf einem soliden fünften Platz. Spitzenreiter auch in absoluten Klickzahlen bleiben mit Abstand die USA. Virtuell scheint das Sex-Leben jedenfalls nicht zu stagnieren.
Zwischenmenschliche Interaktion steigert wieder die Lust
„Leider haben wir keine Studienergebnisse über die Häufigkeit und die Art von Bordellbesuchen oder anderem gekauftem Sex“, bedauert Juliane Burghardt. Aber eine wichtige Erkenntnis lieferte ihre eigene wissenschaftliche Arbeit an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften und der Universität Mainz über die Bettkante hinaus. „Sexualität ist ein Symptom zwischenmenschlicher Interaktion und Beziehungen – quasi ein Nebeneffekt.“ Stärken wir diese Beziehungen und holen wir sie in die analoge Welt zurück, sollte es auch wieder mehr Sex geben, da ist sich Burghardt sicher.