Das Foto vom Latte Macchiato ist perfekt belichtet, das Meer im Hintergrund schimmert türkis. Was niemand sieht: Der Kaffee ist längst kalt, weil das Foto zehnmal nachgestellt wurde. Auf Instagram bleibt nur der schöne Moment – in Wirklichkeit war es eine hastige Pause zwischen Terminen.
So funktioniert Social Media. Ein Klick, ein Filter – und der graue Alltag wirkt plötzlich spektakulär. Beim Scrollen durch Instagram, TikTok oder den WhatsApp-Status scheinen andere immer unterwegs, erfolgreich und fröhlich zu sein. Viele inszenieren online ein Leben, das sie so nicht führen. Die Timeline wird zur Galerie – mit wenig Platz für Authentizität, viel Raum für Perfektion.
„Ein bisschen Glamour macht glücklicher“, sagt der Heidelberger Psychotherapeut und Buchautor Jörg Berger. „Habe ich hier nicht lecker gegessen? War ich nicht an einem wunderschönen Ort? Habe ich nicht besondere Freunde, aufregende Kontakte, einen süßen Partner?“ Glück zu teilen sei ein menschliches Grundbedürfnis: „Nichts ehrt uns mehr, als wenn das Leben gut zu uns ist.“
Außerdem, so Berger, sei Selbstdarstellung zunächst sogar höflich: „Wer möchte schon wissen, welche hässlichen Gedanken ich manchmal habe oder wie lieblos ich reagieren kann? Total echt zu sein, wäre oft anstößig.“ Schwächen gehörten ins Private – dort seien wir, anders als im digitalen Raum, geschützt.
Für die klinische Psychologin Melanie Gramer endet der harmlose Glamour allerdings spätestens, wenn die Inszenierung zum ständigen Maßstab wird: „Online gilt das gleiche wie offline – wir wollen anerkannt, geliebt, verstanden werden. Nur wird das im Netz messbar: in Likes, Herzchen, Views.“ Um diese Aufmerksamkeit zu gewinnen, werde optimiert, gefiltert, perfekt ausgeleuchtet.
Die Bühne ist riesig: Instagram hat weltweit mehr als zwei Milliarden Nutzer, TikTok 1,5 Milliarden, WhatsApp mehr als drei Milliarden – Millionen davon allein in Deutschland. „Das perfekte Bild ist allgegenwärtig“, erklärt Gramer. „Unser Gehirn nimmt es für bare Münze – und vergleicht ständig.“ Nur sieht man weder Streit noch Einsamkeit, nur das glatte Schaufensterbild.
Die Inszenierungen sind selten spontanes Glück: „Oft stecken dutzende Anläufe drin, bis das Foto ‘perfekt’ ist“, sagt Gramer. Die Folge: Wer sein eigenes Leben dagegenhält, fühlt sich schnell abgehängt. Also wird selbst nachgeholfen – mit Filtern, cleveren Ausschnitten oder Zitaten, die Tiefe suggerieren, wo Unsicherheit herrscht.
Dabei wirkt jede digitale Anerkennung unmittelbar. Das rote Herzchen auf dem Display löst im Gehirn denselben Belohnungseffekt aus wie ein Kompliment – nur schneller. Für manche wird diese Rückmeldung zur Ersatzquelle für Selbstwert. Bleibt sie aus, sinkt das Gefühl der eigenen Bedeutung.
„Wer sein Glück und seinen Wert allein auf seine Außenwirkung baut, lebt irgendwann ein Pseudoleben“, warnt Berger. „Viele sagen dann selbst, dass sie gar nicht wissen, wer sie wirklich sind.“ Sein Rat: den Wert in alltäglichen Dingen zu suchen – „in der Natur, in Freundschaft, in Großzügigkeit zu jedem Menschen und vielleicht auch in Gott, der die Letzten leidenschaftlicher liebt als die Ersten.“
Für Gramer liegt der Schlüssel in einem einfachen Perspektivwechsel: „Je mehr wir uns vergleichen, desto unzufriedener werden wir. Das wahre Glück beginnt da, wo wir aufhören, anderen etwas vorzuspielen – und anfangen, unser echtes Leben zu leben.“ Oder, ganz praktisch: Handy weglegen. Hinschauen. Wirklich da sein.