Filmfestspiele in Cannes beendet – Im Jahr der Frauen

Der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof hielt das Politische dann doch nicht ganz von Cannes fern. Vor allem aber wurden mit Bedacht Filme gezeigt, die eine weibliche Perspektive ins Zentrum rücken. Das ändert alles.

Ganz geklappt hat es nicht mit der Absicht, politische Themen aus dem 77. Festival in Cannes herauszuhalten, das am Wochenende zu Ende ging. Zum Auftakt verkündete Cannes-Chef Thierry Fremaux zwar, dass sich das Politische nur auf der Leinwand abspielen werde. Doch schon einen Tag zuvor war bekannt geworden, dass sich der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof auf der Flucht befinde. Dem mehrfach inhaftierten und mit Arbeits- und Ausreiseverboten belegten Filmemacher drohten erneut eine langjährige Haftstrafe und Peitschenhiebe.

Deshalb zog nicht nur sein heimlich entstandener Film “The Seed of the Sacred Fig” hohe Erwartungen auf sich, sondern auch Rasoulof selbst, der den Iran zu Fuß verlassen hatte. Er floh nach Hamburg, wo er seit vielen Jahren eine Art zweite Heimat gefunden hat und wo der von dem Cutter Andrew Bird aus dem Iran geschmuggelte Film fertiggestellt wurde.

Die Premiere von “The Seed of the Sacred Fig” am vorletzten Tag des Festivals wurde dann nicht nur zu einer überwältigenden Geste der Solidarität und zur Feier von Rasoulofs Mut, sondern auch zu einem filmischen Triumph. Während der Vorführung brandete mehrfach Szenenapplaus auf; am Ende folgte überwältigende Standing Ovations. Für viele war das raffinierte Familien- und Gesellschaftsdrama der Höhepunkt des Festivals, dem sich auch die Internationale Jury nicht entziehen konnte: sie bedachte den Film mit einem Spezialpreis.

Erzählt wird die Geschichte einer vierköpfigen Familie aus Teheran, die im Herbst 2022 nach dem Tod der jungen Iranerin Jina Mahsa Amini auseinanderbricht. Der Vater ist jüngst ans Revolutionsgericht berufen worden, wo er im Zuge der Protestwelle massenhaft Todesurteile unterschreiben muss, was er seinen beiden Töchtern verheimlicht. Als diese ebenfalls in die Unruhen verwickelt werden und auch noch die Dienstwaffe des Vaters verschwindet, zwingt er sie in einem einsamen Landhaus mit inquisitorischen Methoden zu Geständnissen vor laufender Kamera.

Das Private und das Politische verschwimmen nicht nur in der Figur des diktatorischen Vaters. Beide Dimensionen durchdringen den Film auf unterschiedlichsten Ebenen, auch durch dokumentarische Aufnahmen der Proteste und brutaler Polizeigewalt. Der gesellschaftliche Riss geht quer durch die Familie; die Mutter rückt zunehmend auf die Seite der Töchter. Das Misstrauen des theokratischen Systems, das seine Macht mit offenem Terror zu sichern versucht, zerstört die innersten Bande, die eine Familie oder eine Gesellschaft zusammenhalten: das Vertrauen zu- und den Glauben aneinander.

In diesem Punkt berührt sich “The Seed of the Sacred Fig” mit dem Gewinner der Goldenen Palme, dem US-amerikanischen Drama “Anora” von Sean Baker – allerdings genau in der entgegensetzten Richtung. Denn in dem furiosen Drama um eine Striptease-Tänzerin geht es zunächst und ausschließlich um finanziellen Belange. Dafür setzt die Hauptfigur Nacht für Nacht ihren durchtrainierten Körper ein, mit dem sie ihre Kunden eines Nachtclubs in Brooklyn in stille Räume lockt.

Erst recht will sie ihre Chancen nutzen, als ein verwöhnter russischer Oligarchen-Sohn sie für eine Woche als Escort bucht und aus einer Laune heraus in Las Vegas gleich auch noch heiratet. Die beiden schweben im superreichen Nirwana, bis seine Eltern in Russland Front gegen die Verbindung machen.

Das führt zu einer Reihe kurioser Twists, die den dynamischen Film Richtung Komödie treiben, da sich die frischgebackene Ehefrau mit drei Exil-Russen auf die Suche nach ihrem ausgebüxten Gatten machen muss, der vor dem Zorn seiner Eltern davonläuft. Bei der nächtlichen Odyssee durch New York mischen sich grandiose Momente und eine fiebrige Exzessivität aber immer mehr mit Szenen, in denen Autonomie und Würde der Protagonistin deutlicher werden.

Die “Goldene Palme” adressierte Jury-Präsidentin Greta Gerwig zu Recht an einen “unglaublich menschlichen Film”, der hinter den visuell entfesselten Bildern etwas zutiefst Authentisches aufscheinen lasse: die Suche nach Zugehörigkeit jenseits aller Verwertungslogiken.

Auf höchst unterschiedliche Weise passten diesen beiden Filme ins Generalthema des diesjährigen Cannes-Festivals, das fast durchgängig die Perspektive von Frauen ins Zentrum rückte. Seitdem der sogenannte Bechdel-Test der US-amerikanischen Comic-Künstlerin Alison Bechdel auch in Mainstream-Medien populär geworden ist – er spießt weibliche Stereotypisierungen auf, indem er den Anteil und den Inhalt weiblicher Dialoge in Filmen auswertet -, lässt sich die Schieflage zwischen den Geschlechtern auf der Leinwand nicht mehr verschleiern.

Das hat auch in Cannes zu einem Umdenken geführt, zumal in Frankreich die Forderung nach einer 50/50-Quotierung in der Filmindustrie besonders virulent ist. Die inhaltlich dominante Ausrichtung an weiblichen Hauptfiguren war nicht zu übersehen – vom Chrom-und-PS-Spektakel “Furiosa: A Mad Max Saga” bis zum schwarz-weißen Weltkriegsdrama “The Girl with the Needle”.

Das führte zu deutlichen Akzentverschiebungen innerhalb der Filme. So wirft der britische Film “Santosh” der Regisseurin Sandhya Suri einen ernüchternden Blick auf die Verhältnisse im Norden Indiens, indem er die Geschichte einer Ermittlung aus Sicht zweier Polizistinnen erzählt.

Die Hauptfigur ist eine junge Witwe, die nach dem Tod ihres Mannes dessen Job als Polizist geerbt hat und sich als umsichtige und vor allem unbestechliche Frau erweist. Bei ihren Recherchen zum Tod eines 14-jährigen Mädchens wird sie von einer älteren Beamtin unterstützt, die sich innerhalb der rüden Männergesellschaft einen Platz erkämpft hat. Der Preis dafür aber ist hoch und offenbart enorme soziale Ungleichheiten.

Wie wohltuend unprätentiös ein Perspektivwechsel die Dinge in Bewegung versetzen kann, zeigt das illustre Spiel von Chiara Mastroianni, die in “Marcello Mio” in die Rolle ihres Vaters Marcello Mastroianni schlüpft und mit den Identitäten jongliert. Mit von der Partie sind ihre Mutter Catherine Deneuve und ihre ehemaligen Partner Melvil Poupaud und Benjamin Biolay, aber auch Fabrice Luchini, der als einziger die Chance ergreift, etwas nachzuholen, was er im wahren Leben versäumt hat: nämlich eine Freundschaft mit dem italienischen Starschauspieler.

Alle anderen reagieren konfus bis aggressiv auf die Verwandlung, mit der Chiara Mastroianni anfangs ihre Unsicherheit darüber überspielen will, immer wieder an den berühmten Eltern gemessen zu werden. Es reichen ein schwarzer Anzug, Schnauzer, Hornbrille und Hut, um aus der eigenen Haut und dem angeborenen Geschlecht zu schlüpfen – und die Welt in Aufregung zu stürzen.

Regisseur Christophe Honore nutzt das zu einer beschwingten Charade der Möglichkeiten, an deren Ende Chiara Mastroianni beherzt ins Offene schwimmt, während alle anderen nicht mithalten können. Als Vision für die Programm-Auswahl künftiger Cannes-Festivals wäre das mehr als ein Bild, das das Festival künftig als Poster schmücken könnte.