Fachleute: Darum ist ein Arztbesuch nach Gewalttaten wichtig

Viele Betroffene von Gewalt scheuen den Weg zur Polizei. So bleiben Verbrechen unentdeckt – und die Taten gehen womöglich weiter. Eine besondere Ambulanz will Abhilfe schaffen.

K.o.-Tropfen sind nur wenige Stunden im Blut nachweisbar, DNA-Material geht verloren, blaue Flecken verblassen: All dies stellt Ermittler und Helferinnen vor Schwierigkeiten, wenn es um Gewalttaten geht. Als besonders gefährdet gelten Kinder, Frauen und alte Menschen. Die Gewaltambulanz am Institut für Rechtsmedizin in Heidelberg bietet eine niederschwellige Möglichkeit, Spuren zu sichern und die Verletzungen zu dokumentieren.

Es ist eine bundesweit einzigartige Anlaufstelle, die gerade erst am Stuttgarter Klinikum einen Ableger gegründet hat. Daneben läuft ein vom Land Baden-Württemberg gefördertes telemedizinisches Projekt gemeinsam mit zwei Partnerkliniken in Heilbronn und Ravensburg. Bei Verdachtsfällen können die Ärzte die Experten von der Heidelberger Rechtsmedizin hinzuziehen, die über eine virtuelle Datenbrille die Untersuchungen mitvollziehen und anleiten können.

Gegründet hat die Einrichtung 2011 Kathrin Yen, Ärztliche Direktorin des rechtsmedizinischen Instituts. Sie kam im selben Jahr nach Heidelberg; zuvor hatte sie in Graz und Bern gearbeitet, wo ihr damaliger Chef eine ähnliche Anlaufstelle für Gewaltopfer aufgebaut hatte. “Der Bedarf ist da, und er ist groß”, sagt Yen. Im vergangenen Jahr hat die Gewaltambulanz 744 forensisch-medizinische Untersuchungen durchgeführt; neben häuslicher Gewalt geht es um Misshandlungen von Kindern und auch älteren Menschen.

Die Gewaltambulanz ist rund um die Uhr geöffnet und auch mobil in ganz Nordbaden unterwegs. Die Betroffenen werden entweder selbst vorstellig oder Krankenhäuser, Ärzte, Jugendämter und Polizei melden sich, weil ein Verdacht auf Missbrauch oder Misshandlung vorliegt. Ob es zur Anzeige kommt, entscheiden die Betroffenen selbst. “Die Hemmschwelle ist sehr hoch, nur 30 Prozent der Menschen, die wir untersuchen, haben zuvor Anzeige erstattet”, sagt Yen. Das Wichtigste aber sei ohnehin das Sichern von Beweisen. “Sachbeweise sind im Strafverfahren von unschätzbarem Wert, ansonsten steht Aussage gegen Aussage.”

Wie Yen unterstreicht, kann ein normaler Arzt, etwa ein Hausarzt, die rechtsmedizinische Untersuchung nicht ersetzen. Für Gutachten, die gerichtlich Bestand haben sollen, sind spezifische Anforderungen an die Dokumentation und Spurensicherung zu berücksichtigen. Die Gewaltambulanz erfasst selbst kleinste oder oberflächliche Befunde, etwa blaue Flecken, die anhand ihrer Gestaltung Aufschluss darüber geben können, ob jemand mit der Hand geschlagen oder mit einem Gegenstand traktiert wurde.

Auch bildgebende Verfahren kommen zum Einsatz. “So können wir beispielsweise sehen, ob das Schädel-Hirn-Trauma von einem Sturz vom Wickeltisch herrührt oder das Kind gewaltsam am Kopf verletzt wurde. Auch das Alter von Knochenbrüchen lässt sich bestimmen.”

Neben der Behandlung akuter Fälle wird die Gewaltambulanz präventiv tätig. “Wir untersuchen im Dunkelfeld, das heißt, wir finden Menschen, die gefährdet sind”, sagt Yen. Dafür steht den Rechtsmedizinern eine Traumapsychologin zur Seite, die Betroffene je nach individuellem Bedarf an die richtigen Stellen im Hilfesystem führt; das kann eine Rechtsberatung sein oder das Frauenhaus, Selbsthilfegruppen oder psychologische Beratungsstellen.

“Manchmal sind es Kleinigkeiten, weshalb sich eine Frau, die häusliche Gewalt erfahren hat, keine Hilfe holt”, so schildert Yen ihre Erfahrung. Zum Beispiel fehle es mitunter an einem Auto, um einen Anwalt aufzusuchen. “Wir können die Taxifahrten bezahlen, und die Therapeutin kann den Termin auch begleiten.” Entstanden ist die Lotsenstelle ursprünglich aus einem EU-Projekt, inzwischen fördert die Stadt Heidelberg die Stelle zur Hälfte.

“Es sollte normal werden, dass jemand, der Gewalt erlitten hat, den Weg zu einer Gewaltambulanz findet”, sagt Yen. Dafür müsste es dann aber auch mehr Mediziner mit entsprechenden Kenntnissen geben – und das Tabu, über Gewalterfahrungen zu reden, müsste verringert werden.