Expertin Silke Gütlich: Evangelische Jugendarbeit braucht neue Formate

Wie sieht die Zukunft der evangelischen Jugendarbeit aus? Die Sozialwissenschaftlerin Silke Gütlich sagt im Interview: Mit dem klassischen Sonntagsgottesdienst kommt man nicht weit.

Mitdenken, Mitbestimmen: Jugendversammlung in der westfälischen Landeskirche
Mitdenken, Mitbestimmen: Jugendversammlung in der westfälischen LandeskircheArchiv / Amt für Jugendarbeit der EKvW

Sie haben für Ihre Dissertation untersucht, was nötig ist, um die evangelische Jugendarbeit zukunftsfähig zu machen. Dafür haben Sie 30 haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende befragt. Was ist dabei rausgekommen?
Silke Gütlich: Ganz komprimiert kann man feststellen: Formate für junge Menschen müssen sowohl etwas mit ihrer Lebenswelt zu tun haben als auch ihre psychischen Grundbedürfnisse aufnehmen, damit sie als relevant erlebt werden. Das gilt im Übrigen für alle Altersgruppen.

Welche Bedürfnisse sind das bei den Jugendlichen?
Zu den psychischen Grundbedürfnissen gehören das Bedürfnis nach Bindung und Anerkennung, nach Orientierung und Lustgewinn, die Bedürfnisse nach Identität, Spiritualität und Sinn. Die gute Nachricht ist, dass evangelische Jugendarbeit alle diese Grundbedürfnisse in ihren Angeboten abbildet: Über potenzielle Gemeinschaftserfahrung, die Chance des sich Ausprobierens, der Partizipation an subjektiv relevanten Programmen, die Möglichkeit, sich mit der eigenen Person auseinanderzusetzen und Kompetenzen zu entwickeln sowie gemeinsam den Glauben zu entdecken.

Silke Gütlich
Silke GütlichAmt für Jugendarbeit / Simone Hilgers

Gottesdienste spielen an dieser Stelle vermutlich keine Rolle?
Das stimmt. Interessant können manchmal alternative Gottesdienstformen sein, zum Beispiel mit viel Musik und partizipativen Elementen. Aber der klassische Sonntagsgottesdienst spricht weder Jugendliche noch junge Erwachsene, also die Altersgruppe bis 35, an. Und das gilt selbst für junge hauptamtliche Kirchenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Alle verweisen jedoch sehr deutlich auf die Relevanz, die der Glaube für sie hat. Sie möchten ihre Spiritualität allerdings in Formen leben, die ihnen entsprechen.

Nehmen junge Menschen denn Kirche überhaupt noch als relevant wahr?
Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Von zentraler Bedeutung sind allerdings die Vorerfahrungen. Kirche ist dann relevant, wenn man gute Erfahrungen mit ihr gemacht hat – in einer evangelischen Kita, in einer Kindergruppe oder im Konfirmationsunterricht. Wenn das der Fall ist, stehen auch die Chancen gut, dass diese jungen Menschen am kirchlichen Leben nicht nur teilnehmen, sondern sich gegebenenfalls auch aktiv einbringen.

Jugendliche nicht nur zu „bespaßen“, sondern sie selbst zu Akteuren zu machen, scheint nach allem, was man liest, ein Schlüssel zum Erfolg zu sein.
Tatsächlich ist das ein wichtiger Faktor: Jugendliche möchten sich einbringen, dabei Spaß haben und auch Kompetenzen erwerben. Dabei legen sie aber großen Wert auf Begleitung, Bestätigung, Wertschätzung und auf die Integration in die vorhandenen Strukturen. Sie wollen nicht einfach nur als Anhängsel oder als „Quotenjugendliche“ in gemeindlichen Gremien wahrgenommen werden. Und als besonders wichtig empfinden sie die persönliche Ansprache. Es reicht also nicht, in die Runde zu fragen: „Wer hat Lust?“

Es braucht also professionelle Hauptamtliche?
So ist es. Sie sind die „Aushängeschilder“ der Kirche, wenn es um die Beziehung mit der jungen Generation geht. Junge Menschen schätzen sie unter anderem als Wegleiterinnen, Ansprechpartner, Initiatoren und Ermöglichende. Die Partizipation der Ehrenamtlichen ist gekoppelt an die Begleitung durch qualifizierte Fachkräfte. Dies müssen wir in unseren Strukturprozessen definitiv berücksichtigen.

Wie sehen Sie die Zukunft der kirchlichen Jugendarbeit auch angesichts der sich wandelnden kirchlichen Strukturen: Gemeinden schließen sich zusammen. Dadurch werden Wege länger und die Teilhabe erschwert.
Das sehe ich als kein großes Problem an. Da sind Jugendliche flexibler als viele Erwachsene. Die Zugehörigkeit zu ihrer Heimatgemeinde steht für sie nicht im Vordergrund. Wenn sie irgendwo ein attraktives Angebot vorfinden, nehmen sie auch längere Wege in Kauf.

Wird die jetzt veröffentlichte kirchliche Missbrauchsstudie negative Auswirkungen auf die Jugendarbeit in der Kirche haben? Möglich wäre immerhin, dass Eltern ihre Kinder nur noch ungern dem „System Kirche“ anvertrauen.
Ich denke, Eltern, die in dieser Frage sensibilisiert sind, werden genau hinschauen, wie in ihrer Gemeinde, in ihrem Kirchenkreis mit der Frage des sexuellen Missbrauchs umgegangen wird, wie Schutzkonzepte realisiert werden, und dann entsprechend handeln.

Wo sehen Sie angesichts zurückgehender Mitgliederzahlen und finanzieller Mittel die evangelische Jugendarbeit im Jahr 2050?
Gerade in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hat Kirche eine immense Chance. Das heißt, dafür sollte sie Mittel zur Verfügung stellen – personell und finanziell, damit Menschen weiterhin in den Kontakt mit ihr kommen und hier positive Erfahrungen machen. Das könnte dann dazu führen, dass diese Menschen der Kirche verbunden bleiben und sich gegebenenfalls später selbst engagieren. Anders formuliert: Kirche der Zukunft benötigt für ihren Fortbestand eine innovative, lebendige und lebensweltorientierte Jugendarbeit jetzt und auch noch im Jahr 2050.

Zur Person:

Silke Gütlich ist promovierte Sozialwissenschaftlerin ist Professorin für Soziale Arbeit an der IU Internationalen Hochschule. Außerdem bietet sie Beratung und Coaching für Non-Profit-Organisationen, Gemeinden, Gremien und Verbände an.

Veranstaltungshinweis:

„Zukunft freiwilliges Engagement – Bedarfe Haupt- und Ehrenamtlicher, dargestellt am Handlungsfeld evangelischer Jugendarbeit“ heißt der Titel einer Online-Veranstaltung am Donnerstag, 29. Februar, von 19.30 bis 21 Uhr. Einladende sind die Evangelische Erwachsenenbildung und der Kirchenkreis Bielefeld. Referentin ist Silke Gütlich. Die Teilnahme ist kostenlos. Infos: www.ebwwest.de.