Experten schlagen Alternativen zum 112-Rettungsdienst vor

Rettungsdienste ächzen unter einer hohen Zahl an Einsätzen, viele davon ohne Notfall. Ursache sind strukturelle Mängel. Wie kann der Notruf modernisiert werden?

In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Rettungsdiensteinsätze in etwa verdoppelt
In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Rettungsdiensteinsätze in etwa verdoppeltImago / Michael Gstettenbauer

Angeblich rufen Menschen wegen eingerissener Fingernägel die 112 an. Die Rettungsdienste ächzen unter einer hoher Zahl von Einsätzen, die keine Notfälle sind. Ob das stimmt, ist umstritten, aber klar ist: Die Zahl der Rettungsdiensteinsätze hat sich in den vergangenen 20 Jahren in etwa verdoppelt. Mittlerweile gibt es aber kaum Personal mehr, das man zusätzlich einstellen könnte. Der Rettungsdienst stehe vor dem Zusammenbruch, warnt das Bündnis „Pro Rettungsdienst“.

Worin genau eigentlich die Probleme liegen, die zu mehr Einsätzen führen, lässt sich gesichert noch nicht sagen. „Die Forschung dazu fängt gerade erst an“, erklärt Thomas Hofmann von der Deutschen Gesellschaft für Rettungswissenschaften in Aachen. Einige Problemfelder ließen sich dennoch identifizieren. So produziere eine mangelhafte Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten unnötige Einsätze.

In der Kritik steht der Ärztliche Bereitschaftsdienst (ÄBD) der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV). Der ÄBD ist die Vertretung von Hausärzten nachts, am Wochenende und an Feiertagen. Patienten rufen häufig die 112 an, wenn sie lange auf einen Besuch des ÄBD warten müssen oder sie die ÄBD-Zentralen gar nicht erst telefonisch erreichen.

Kritik an Lautersbachs Modell

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat bereits im Februar ein Modell zur Reform der Notfallversorgung vorgestellt. Demnach sollen integrierte Leitstellen alle Hilfeersuchen aufnehmen und sie an die jeweils geeigneten Leistungserbringer weiterleiten, also entweder Rettungsdienst oder ÄBD.

Hofmann fehlt ein Aspekt an diesem Modell. Das Problem am ÄBD sei, dass die niedergelassenen Ärzte ihn selbst finanzieren, erklärt er. Jeder Patient, den der ÄBD an den Rettungsdienst abgeben kann, belaste das Budget nicht. „Ein klassischer Fehlanreiz“, sagt er. Sollten die integrierten Leitstellen kommen, müssten sie über ein Weisungsrecht für den ÄBD verfügen. Der ÄBD dürfe Patienten, die Rettungsleitstellen an ihn abgebe, nicht ablehnen.

Rettungsdienst braucht Reform

Janosch Dahmen hingegen hält ein Weisungsrecht aus rechtlichen Gründen für unrealistisch. Denn sie stehe der ärztlichen Selbstverwaltung entgegen, unterstreicht der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion. Ehe Dahmen 2020 in den Bundestag einzog, war er Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes in Berlin. Er sieht das Problem mit dem ÄBD an anderer Stelle: „Der gesetzliche Auftrag, was genau vom ÄBD für die ambulante Notfallversorgung angeboten werden muss, ist zu unpräzise formuliert.“ Hier müsse der Gesetzgeber nachschärfen.

Sowohl Dahmen als auch Hofmann sagen, der Rettungsdienst habe mit gesellschaftlichen Entwicklungen nicht Schritt gehalten. Menschen leben heute oft nicht mehr in Großfamilien. Ihnen fehlt im Notfall Unterstützung, auch bei geringen medizinischen Problemen. Konkret: Wenn sich ein Single, der in einer Großstadt alleine lebt, sich den Zeh bricht, kommt er ohne Rettungswagen gar nicht mehr ins Krankenhaus. Auch Menschen mit psychosozialen Problemen wählen die 112, weil sie keine anderen Ansprechpartner mehr haben. Oder die ältere Dame mit chronischer Lungenkrankheit, weil kaum ein Hausarzt mehr Kapazität hat für Hausbesuche.

Alternativen zu 112

Beide Experten nennen Ideen, wie diese Versorgungsprobleme aufzufangen wären, ehe sie beim Rettungsdienst landen: ein Tele-Hausarzt zum Beispiel. Oder ein Notfallpflegedienst, der zum Beispiel verstopfte Urinkatheter wechseln könnte. Ein sozialpsychiatrischer Dienst, der sich um Menschen kümmert, die nicht mehr für sich selbst sorgen können. Die Vorschläge stehen im Papier „Vorbeugender Rettungsdienst – präventive Ansätze und Förderung von Gesundheitskompetenz an den Schnittstellen zur Notfallrettung“.

Den Vorwurf, dass Menschen wegen Bagatellen den Rettungsdienst riefen, lässt Dahmen nicht gelten. Er spricht von einem „Mythos“. Und selbst wenn es stimmen sollte: „Man darf einem Menschen nicht absprechen, dass er anruft und einen Rettungswagen haben will, wenn er glaubt, dass er einen benötigt.“