Eugen Ruge wird 70: Wie die kommunistische Utopie verlöschte

Der Titel “In Zeiten des abnehmenden Lichts” ist symbolisch. Eugen Ruge hat in einer Familiensaga beschrieben, wie der Glaube an den Sozialismus von Generation zu Generation verschwindet. Jetzt wird der Autor 70 Jahre.

Seine Roman-Figuren müssen lange Wege gehen – geografisch und auch im Kopf. Auch Eugen Ruge selber hat weite Strecken zurückgelegt: Vom sowjetischen Soswa hinter dem Ural, wo er vor 70 Jahren, am 24. Juni 1954, geboren wurde, über die DDR bis zur Flucht in die Bundesrepublik. Vom Sohn des DDR-Historikers Wolfgang Ruge über seinen Beruf als Mathematiker und Physiker bis zum Schriftsteller, der erst mit über 50 Jahren seinen literarischen Durchbruch feierte.

Ruges Vater war als in Russland lebender Deutscher von den sowjetischen Machthabern in ein Lager im nördlichen Ural deportiert worden; seine Mutter war Russin und diente während des Zweiten Weltkriegs in der Roten Armee. 1956 kam die Familie aus der Sowjetunion zurück in die DDR, wo sie in Potsdam lebte und Vater Wolfgang zu einem der führenden Historiker wurde.

Nach seinem Studium arbeitete Ruge insbesondere im Bereich der Erdbebenforschung, ein Thema, das in seinem jüngsten Roman “Pompeji” Bedeutung erlangen sollte. Da er – aufgrund der Datenlage – keine mathematischen Risikoaussagen für ein geplantes Kernkraftwerk zu machen bereit war, kündigte er und begann, Filme und Theaterstücke zu schreiben.

Schon seit Beginn der 80er Jahre habe er sich innerlich zunehmend vom DDR-System distanziert, berichtet er. 1988 fuhr Eugen Ruge mit einem Besuchsvisum in die Bundesrepublik und kehrte nicht in die DDR zurück.

Ein Großteil des erzählerischen Werks Ruges kreist um seine Familiengeschichte. Seinen literarischen Durchbruch feierte der Berliner Schriftsteller mit dem Roman “In Zeiten des abnehmenden Lichts”, für den er 2011 den Deutschen Buchpreis erhielt. Über vier Generationen hinweg erzählt Ruge vom Untergang der kommunistischen Utopie und der DDR: Die Großeltern brannten noch für den Kommunismus, als sie aus dem mexikanischen Exil kamen, um nach 1945 ein neues Deutschland aufzubauen. Der Vater kehrte aus der Sowjetunion heim: mit einer russischen Frau, der Erinnerung ans Lager und dennoch mit dem Glauben, dass sich der reale Sozialismus verbessern ließe. Der Enkel stellt das immer stärker in Frage. Diese Welt wird ihm zu eng und er geht in den Westen: an eben dem Tag, an dem sich Familie, Freunde und Feinde versammeln, um den 90. Geburtstag des Patriarchen zu begehen.

Mit seinem Roman “Metropol” (2019) knüpft Ruge an diesen Welt-Bestseller an: Es geht um Loyalität und Gehorsam, Glauben, Verdächtigung und Verrat. Vor dem Hintergrund der Geschichte seiner Großeltern bechreibt der Autor den stalinistischen Terror der 30er-Jahre in der Sowjetunion – und dessen tödliche Mechanismen: absurde Vorwürfe, unter Folter erpresste Geständnisse, Angst – plötzlich war der überzeugteste Kommunist ein Verräter.

Seine Großmutter habe für den Geheimdienst der Kommunistischen Internationale, also der Weltorganisation der Kommunistischen Parteien gearbeitet, berichtete Ruge im Deutschlandfunk. Eines Tages sei sie überraschend vom Dienst suspendiert worden. “Ein paar Tage vorher hatte sich herausgestellt, dass sie einen Mann kennt, der im ersten Schauprozess 1936 im August verurteilt und auch erschossen worden ist.” Daraufhin sei sie wie andere ausländische Kommunisten ins Hotel Metropol einquartiert worden, ein Luxushotel in Moskau und gleichzeitig eine Hölle, weil der Geheimdienst in jeder Nacht Bewohner abholte, um sie zu exekutieren.

Nächte der Angst: Die – im Roman beschriebene – Großmutter quält sich mit Zweifeln und übt Selbstkritik: Der Mann, den sie kannte, hätte zwar nie einen Mordanschlag auf Stalin geplant. Doch der Wunsch, weiter Teil der kommunistischen Bewegung zu bleiben, sei so stark gewesen, dass sie anfing, an sich selbst zu zweifeln.

Ruges jüngster Roman “Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna” (2023) spielt nicht nur geographisch, sondern auch im – immer wieder ironischen Tonfall – in einer anderen Welt. Es geht um den Vulkanausbruch des Jahres 79 nach Christus und die Frage, warum die Menschen die Vorzeichen der Natur nicht ernst genommen haben – eine satirische Parabel auf die heutige Zeit. Und es geht um einen Versager und Aussteiger, der es aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten schafft, mit der Perspektive auf eine mögliche Katastrophe zu jonglieren und in die Oberschicht aufzusteigen.