Ethikrats-Chefin: Auch die Leistungen während Coronazeit sehen

Die Deutschen waren während der Corona-Zeit irrsinnig kreativ und solidarisch. Sagt die Chefin des Ethikrates. Sie wünscht sich weniger Nörgelei und Geschimpfe.

In der Debatte über die Corona-Politik der vergangenen Jahre fordert die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, mehr Aufmerksamkeit für die Erfolge und positiven Auswirkungen. „Wir müssen als Gesellschaft einfach mal aufhören mit diesem ständigen Fokussieren auf das, was gerade nicht gut läuft“, sagte sie der neuen Ausgabe des „Spiegel“. „Es gibt Spaltungs- und Polarisierungsphänomene, ja, aber die Gesellschaft ist viel weniger gespalten, als es im Moment herbeigeredet wird“, fügte sie hinzu. „Und das Vertrauen in die Wissenschaft ist immer noch höher als vor der Pandemie.“

Die Münchner Professorin für Medizinethik verwies auf große wissenschaftliche Erfolge: „An der Charite wurde beispielsweise der erste Coronatest entwickelt, bei Biontech der mRNA Impfstoff, das Robert-Koch-Institut ist ein weltweit angesehenes Institut. Unsere Wissenschaft war Weltspitze“, sagte sie. Die Entwicklung eines Impfstoffs sei eine große Menschheitsleistung gewesen, die die Pandemie beherrschbar gemacht habe.

Zugleich hätten die Bürger in Betrieben, Schulen, Kitas und Geschäften unglaubliche Kreativität und Solidarität entwickelt. „Das war eine irrsinnige soziale Leistung.“ Bürokratische Bedenken seien überwunden worden – etwa beim Homeoffice. Bei der Digitalisierung geht Buyx von einem Schub von fünf bis vielleicht sogar zehn Jahren aus. „Wir müssen aufpassen, dass sich jetzt nicht alles zurückdreht.“ Keine positive Bilanz gebe es bei Konsum und Nachhaltigkeit: Der Plastikverbrauch sei gestiegen; das Homeshopping sei explodiert und hoch geblieben.

Ausdrücklich nahm Buyx auch Politik und Wissenschaft in Schutz. Die Protokolle des Robert-Koch-Instituts zeigten, mit welcher Sorgfalt abgewogen und neue Erkenntnisse einbezogen worden seien, sagte die Medizinerin. Auch der Rechtsstaat und die verfassungsrechtlich verbrieften demokratischen Prinzipien hätten funktioniert – Auch wenn es die eine oder andere problematische Exekutivverordnung gegeben habe – etwa gegen Leute beim Spazierengehen oder Jugendliche in Parks. Es habe – bei Tausenden Verfahren – nur wenige Entscheidungen gegeben, die von Gerichten einkassiert worden seien.

Buyx unterstrich: „Da muss man echt aufpassen – wenn falsche Erzählungen verbreitet werden, etwa dass Demokratie und Rechtsstaat versagt hätten, dann erodiert das Vertrauen in unser staatliches System.“ In diesem Zusammenhang warnte die Ethikrat-Chefin vor einer Verzerrung der gesellschaftlichen Debatte. Die gesamte Pandemie werde von einer kleinen, sehr lauten Gruppe instrumentalisiert. Zwei Drittel bis zu drei Viertel der Bevölkerung habe durch die härtesten Zeiten hindurch die Maßnahmen wie den Lockdown oder das Impfen als angemessen empfunden und mitgetragen. „Aber diese Mehrheit kümmert sich jetzt darum, wie sie mit der Inflation zurechtkommt, mit den fürchterlichen Kriegen und dem Terror auf der Welt.“

Zugleich bezeichnete Buyx eine Debatte über Fehler und Versäumnisse als sehr wichtig. „Niemand behauptet doch, es sei alles super gelaufen in der Pandemie.“ Sie bedauere es sehr, dass der Gesellschaft ein Nachdenken und gemeinsames Verarbeiten der Pandemie durch den Krieg in der Ukraine und andere existenzielle Krisen teilweise genommen worden sei.

Als größten Fehler der Politik bezeichnete die Medizinethikerin, dass das Impfen teilweise politisiert worden sei, auch von Parteien. „Und dann noch die ganze Propaganda, Fake News aus dem Internet – all das ergoss sich in die seriöse Debatte und hat sie vergiftet.“

Mit Blick auf den Ethikrat bedauerte sie, dass sich das Gremium viel zu spät intensiver mit den Kindern und Jugendlichen befasst habe. „Zu den Hochaltrigen, die acht, neun Monate nicht aus ihrem Zimmer im Pflegeheim herausgekommen sind, haben wir etwas gemacht, ein Mindestmaß an sozialen Kontakten eingefordert – zu den Kindern haben wir nichts veröffentlicht. Das war falsch, und das bedaure ich zutiefst, bis heute.“