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“Einseitige Leistungskürzungen sind der falsche Weg”

Der Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen, Hans-Joachim Lenke, sieht die jüngsten Forderungen aus Politik und Wirtschaft nach Einschnitten im Sozialsystem kritisch. Die Debatte greife zu kurz, zu oft werde polemisiert und teils würden bereits bestehende Lösungsvorschläge ausgeblendet, sagte er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

epd: Herr Lenke, warum braucht es den Sozialstaat?

Hans-Joachim Lenke: Ich bin der Überzeugung, dass jede Investition in die soziale Infrastruktur eine Investition in eine demokratische, starke und positive Zukunft ist. Ein starker Sozialstaat schützt die Menschen bei Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Pflegebedürftigkeit. Jeder Bürger und jede Bürgerin kann sich auf eine soziale Absicherung im Notfall verlassen. Und das ist gut und schützenswert. Denn das schafft Vertrauen und zeigt: Du wirst nicht alleingelassen.

epd: Bundeskanzler Friedrich Merz hat gesagt, das derzeitige System sei zu teuer.

Lenke: Merz’ Aussage, der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, sei mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar, greift deutlich zu kurz und ist viel zu pauschal. Der Sozialstaat ist längst nicht nur ein Kostenfaktor, an dem man beliebig herumschrauben und kürzen kann.

epd: Politisch wird dennoch oft von der sozialen Hängematte gesprochen, etwa mit Blick auf Leistungsverweigerer, die Bürgergeld beziehen. Halten Sie solche Kritik für berechtigt?

Lenke: Es ist ein fatales Signal, wenn Politiker vermitteln, jeder, der Bürgergeld bezieht, ist faul und verweigert sich der Arbeit. Es gibt einen nicht unerheblichen Anteil an Familien, in dem ein Vollzeitjob schlicht nicht ausreicht, um das tägliche Leben zu bezahlen. Diese Menschen müssen aufstocken, trotz Erwerbstätigkeit.

In anderen Fällen wollen Menschen gerne arbeiten, können dies aber nicht – etwa, weil die Betreuung der Kinder nicht geregelt werden kann oder weil sie sich um die Pflege von Angehörigen kümmern. Natürlich gehört zum Gesamtbild auch ein kleiner Teil an Totalverweigerern – aber alle Bürgergeldempfänger in dieses Licht zu rücken, ist schlicht diskriminierend.

epd: Aber wie soll der Sozialstaat finanziert werden?

Lenke: Dass in Zeiten knapper Kassen über die Finanzierung des Sozialstaates gesprochen werden muss, ist selbstverständlich. Aber es gibt durchaus Möglichkeiten. Dazu gehören für mich zum Beispiel das konsequente Stopfen von Steuerschlupflöchern und eine ebensolche Verfolgung bei Steuerhinterziehung. Allein durch Steuerhinterziehung verliert der Staat jährlich zwischen 75 und 120 Milliarden Euro an Steuergeldern.

Genauso wäre die Einführung einer Vermögenssteuer ein weiterer Finanzierungsbaustein, den man ernsthaft diskutieren müsste. Immerhin gibt es allein in Deutschland 130 sogenannte Superreiche, die zusammen allein im Jahr 2024 einen Vermögenszuwachs von 26,8 Milliarden Dollar erzielt haben. Stattdessen werden derzeit jedoch meist nur Sparmaßnahmen diskutiert, die auf Kosten der Allgemeinheit gehen, wie Karenztage im Krankheitsfall, die Kontaktgebühr für Arztbesuche oder auch die Karenzzeit in der Pflege. Das ist der falsche Weg.

epd: Warum?

Lenke: Sie sind einseitig gedacht und belasten hauptsächlich Menschen mit wenig Einkommen oder stigmatisieren sie. Nehmen wir das Karenzjahr in der Pflege als Beispiel. Sollte das kommen, wird der Anteil an Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern massiv ansteigen. Damit wird dann vielleicht die Pflegeversicherung entlastet, aber die Sozialämter überrannt. Damit lösen wir das Finanzierungsproblem nicht, sondern verlagern es nur.

Deshalb verstehe ich nicht, dass gangbare und auch wissenschaftlich hinterlegte Wege einer finanzierbaren Pflegeversicherung öffentlich nicht diskutiert werden, wie etwa die Verbreiterung der Einnahmeseite bei der Pflegeversicherung. Nicht nur klassische Arbeitseinkommen sollten für die Beitragsberechnung einbezogen werden, sondern auch andere Einkommensarten wie Kapitalerträge und Mieteinnahmen. Diese Vorschläge liegen seit Jahren auf dem Tisch, werden aber nicht umgesetzt.

epd: Wo sehen Sie sonst noch Handlungsbedarf?

Lenke: Zusätzlich braucht es im Bereich der Sozialleistungen Strukturreformen. Viele der Leistungen müssen an unterschiedlichen Stellen beantragt werden, hier herrscht ein bürokratisches Wirrwarr, das dringend neu strukturiert und dann auch digitalisiert werden müsste.

Ein entschlacktes System hätte Vorteile für beide Seiten. Denn das Geld, das bis jetzt in die Bürokratie fließt, könnte dort eingesetzt werden, wo es eigentlich eingesetzt werden sollte: Bei den Menschen, die die Unterstützung dringend benötigen. Wir brauchen dafür aber endlich eine parteiübergreifende Diskussion, die der Sache gerecht wird und frei ist von ideologischer Aufladung.