Eine Stolperschwelle für die Messiaskapelle

Vor der ehemaligen Messias-Kapelle in Berlin-Prenzlauer Berg erinnert eine Stolperschwelle an die Novemberpogrome im Jahr 1938 und die ermordeten Menschen jüdischer Herkunft, die hier getauft wurden.

Stolperschwelle an der Messiaskapelle in der Kastanienallee
Stolperschwelle an der Messiaskapelle in der KastanienalleeKatharina Puhl

Seit Mitte der 1990er Jahre verlegt der 1947 in Berlin geborene Künstler Gunter Demnig Stolpersteine auf Gehwegen. Auf den quadratischen Betonsteinen vor den Wohnhäusern ist an der Oberseite eine Messingtafel befestigt. Auf ihr steht geschrieben, wer hier lebte. Mit den Steinen wird der Einzelschicksale aller verfolgten oder ermordeten Opfer des Nationalsozialismus gedacht; ihre Namen werden so in das Stadtbild zurückgeholt.

Inzwischen liegen mehr als 100 000 Stolpersteine in rund 1800 Kommunen, verteilt auf 21 Länder Europas. Darüber hinaus gibt es circa 40 Stolperschwellen vor Gebäuden und Institutionen, die an die Gewalt­verbrechen und Grausamkeit im Nationalsozialismus erinnern. Mit ihnen wird an größere Gruppen von Menschen erinnert, die verschleppt und ermordet wurden, verschollen sind oder die Flucht in den Tod suchten.

Stolperschwelle sollen Menschen innerlich stolpern lassen

Seit Oktober liegt eine dieser Stolperschwellen vor einem Gründerzeithaus in der Berliner Kastanienallee. Verlegt wurde sie auf Initiative des Kirchenkreises Berlin Stadtmitte. „Eine Stolperschwelle ist dafür da, dass Menschen aufmerksam werden und innerlich stolpern“, sagt Superintendentin Silke Radosh-Hinder. Zwischen einem Nagelstudio zur Linken und einem Outdoor-Sportgeschäft zur Rechten erinnert ab jetzt das in den Boden eingelassene Denkmal auf dem Bürgersteig in Prenzlauer Berg an die Messias-Kapelle.

In schwungvollen Lettern steht dieser Name über dem Torbogen. Im Hinterhof des Hauses befand sich ab 1902 die Kapelle, in der von 1933 bis 1941 mehr als 700 Menschen jüdischer Herkunft getauft wurden. Durch umfangreiche Recherchen wurde bekannt, dass mindestens 86 von ihnen deportiert wurden, von denen nur zwei Menschen überlebten.

Überlebende gesucht und mit Nachkommen gesprochen

Radosh-Hinder beschäftigt sich seit Jahren mit der Erinnerungsarbeit zum Schicksal von Christinnen und Christen jüdischer Herkunft. Eine der ersten Arbeitsgruppen zur Messias-Kapelle wurde vom jetzigen Landesbischof Ralf Meister geleitet, damals Generalsuperintendent des Sprengels Berlin. Die Idee war, aus der Kapelle einen Lern- und Begegnungsort zu machen.

„Dass wir Zeitzeugenberichte haben, verdanken wir Gerlind Lachenicht und der Arbeitsstelle Erinnerungskultur im Evangelischen Landeskirchlichen Archiv Berlin. Sie hat Überlebende gesucht und mit Nachkommen gesprochen“, so Radosh-Hinder. Im Jahr 2009 gab es in der Messias-Kapelle eine Ausstellung, die auf Lachenichts Recherchen beruhte. Das Bemühen des Kirchenkreises Berlin Stadtmitte, den Gedenkort lang­fristig zu erhalten, scheiterte. Das Gebäude nebst denkmalgeschützter Kapelle wurde von einem Investor übernommen.

Messias-Kapelle als Taufort und Ort der Verfolgung

Die Messias-Kapelle war der Ort, an dem seit 1902 die „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ ihren Sitz hatte. Die Kapelle habe eine „doppelte Geschichte“, sagt Radosh-Hinder: Zum einen schlossen die Evange­lischen Landeskirchen ab 1931 nach und nach Christinnen und Christen jüdischer Herkunft aus ihren Gemeinden aus. 1935 verweigerten sich immer mehr Gemeinden deren Taufe. „Dadurch gewann die Messias-Kapelle als Taufort an Bedeutung“, sagt die Superintendentin. „Sie wird plötzlich zu einem Zufluchtsort.“

Die Landeskirche, die anfänglich die Judenmission unterstützt hatte, entzog ihr die finanzielle Förderung. Pfarrer Wilhelm Knieschke arbeitete dort neben weiteren Geistlichen ehrenamtlich. Taufunterricht und Taufen fanden auf Geheiß der Landeskirche ab 1939 ausschließlich in der Messias-Kapelle statt. „Die Taufe wurde aus der Gemeinde, aus der Gemeinschaft herausgeholt“, sagt Radosh-Hinder. Und die Kirche trat nicht für die Verfolgten ein. „Es hätte einen Aufschrei geben müssen: Wir haben hier getauft. Damit sind Jüdinnen und Juden Teil der christlichen Gemeinschaft. Aber man ist mitgegangen mit dem rassischen Antisemitismus. Theologisch ist das ein echter Verrat an unserem eigenen Taufverständnis.“ Es gebe aber Beispiele, bei denen Menschen durch die Taufe vor Verfolgung geschützt wurden.

Kirche war aktiv an der Auslieferung beteiligt

1939 gründete Pfarrer Karl Themel die Kirchbuchstelle. Mit den Eintragungen zur Taufe, die auch die Religionszugehörigkeit der Vorfahren vermerkten, wurden die Unterlagen staatlichen Stellen übergeben. „Das sorgte dafür, dass Christinnen und Christen jüdischer Herkunft gefunden und deportiert wurden“, sagt Silke Radosh-Hinder. „Die evangelische Kirche war aktiv an ihrer Auslieferung an die NS-Behörden beteiligt.“ Während der Novemberpogrome 1938 wurde die Messias-Kapelle verwüstet, 1941 von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) geschlossen. Die Kirchenleitung protestierte weder gegen die Schließung der Kapelle noch gegen die Deportationen.

Direkt nach Kriegsende und in der DDR fanden in der Kapelle Gottesdienste für Überlebende statt. Später löste sich die selbstständige Gemeinschaft auf. Mög­licherweise altersbedingt, so Radosh-Hinder. „Sie hat sich aus dem Moment der historischen Verfolgungssituation geformt. Es war eine Gruppe Überlebender, die da wieder zusammenfanden. Danach war die Situation anders.“ Die „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ löste sich 1982 auf. „Ich blicke sehr kritisch auf die Geschichte der Messias-Kapelle und diese Gesellschaft. Aber sie war in der Zeit des Nationalsozialismus ein Ort der Zuflucht und Unterstützung“, sagt die Superintendentin. „Es ist wichtig, dass wir die Messias-Kapelle unserem kollektiven kirchlichen Gedächtnis hinzufügen.“

Die Stolperschwelle vor der Messias-Kapelle ist eine von derzeit rund 40 vor Gebäuden und Institutionen in Deutschland.