Eine Kirche will den Kiez zur Besinnung bringen

Einmal im Monat öffnet die katholische Kirche auf der Großen Freiheit abends ihre Türen für Kiezbesucher und Partygänger. Zu Besuch in einem Gotteshaus mit einem nicht alltäglichen Publikum.

Klavier, Kerzen und Kreuz erwarten die Besucher
Klavier, Kerzen und Kreuz erwarten die BesucherFriederike Lübke

Hamburg. Auf der Großen Freiheit ist es laut. Aus allen Discos schallt Musik auf die Straße und wird zu einem unentrinnbaren Getöse. Auf- und abschwellend heult eine Jahrmarktsirene vor einem Club, um noch mehr Besucher anzulocken. Und von allen Seiten schreien die Leuchtreklamen mit ihren grellen Farben den Besuchern ins Gesicht: Spielhalle! Happy Hour! Girls! Tabledance! Es ist zehn Uhr abends, und auf Hamburgs bekanntester Querstraße geht es gerade erst richtig los: Feier-Zeit.
Direkt gegenüber des Clubs „Große Freiheit 36“ veranstaltet die katholische Gemeinde St.Joseph-Altona „St. Joseph by night“, eine Art Nacht der offenen Kirche für Kiezbesucher. Jeden ersten Sonnabend im Monat öffnet die Gemeinde von 21 bis 24 Uhr ihre Türen und bietet einen Raum für Besinnung. Vor dem Eingang steht ein Schild „Kirche geöffnet“. Das dunkle Portal steht offen, wenn sich auch die weiße Glastür dahinter öffnet, ist ein großes Kreuz zu sehen. „Viele sind sehr verblüfft, dass hier eine katholische Kirche ist“, sagt ein Mitarbeiter am Eingang.

Sex-Clubs wuchsen um Kirche herum

Dabei war die Kirche zuerst da. Die große Freiheit verdankt ihren Namen nicht dem ausschweifenden Feiern, sondern der Gewerbe- und Religionsfreiheit, die im 17. Jahrhundert für diese Gegend des – damals noch dänischen – Altona galt. Zuerst siedelten sich an der Straße die Mennoniten an, 1658 auch die katholische Gemeinde, die die St.-Josephs-Kirche baute und dort Gottesdienste hielt. Im protestantischen Hamburg war das verboten. Die Mennoniten gingen. St. Joseph blieb.
1944 wurde die Kirche zerstört, 1955 wieder aufgebaut. Die Nacht- und Sexclubs wuchsen um die Kirche herum. Auch heute noch öffnen jeden Abend Tabledance-Bars wie das „Dollhouse“.
Es kommen aber auch Besucher zum Tanzen und Feiern hierher. Ein Mann, der in der Winterkälte nur ein weißes T-Shirt trägt, lehnt an einer Hauswand und stiert vor sich hin. Es gibt die jungen Frauen, die sich kreischend und aneinander geklammert vorwärtsschieben. Männergruppen, die sich gegenseitig anpöbeln, Frauen, die ihren Partner besitzergreifend an der Hand halten, Flaschensammler mit ausgebeulten Tüten. Und dazwischen Touristen in Outdoorjacken, die sich das alles nur mal ansehen wollen.

Mehr als 500 Besucher

„Das gehört auch hierher. Das ist für mich schon in Ordnung. Sonst dürfte ich hier nicht Pfarrer sein“, sagt Karl Schultz über das Getümmel auf der Straße. Seit 2010 leitet er die katholische Gemeinde. Als er den Kiez kennenlernte, hatte er die Idee, auch die Kirche für die Partygänger zu öffnen. Wer will, kann kommen. „Ich wünsche mir, dass die Menschen unsere Kirche entdecken“, sagt er. Die offene Kirche sei ein Angebot für den Kiez. Während die Menschen hier feiern, würden sie auf die geöffneten Türen von St. Joseph aufmerksam werden. Mehr als 500 Besucher kommen jedes Mal. Das kann der Pfarrer so genau sagen, weil am Eingang auch ein Mann mit Klickzähler steht. Je später es wird, desto mehr Besucher zählt er, weil sich dann auch Clubs und Straße füllen.
Manche kommen nur für wenige Minuten in die Kirche, schauen sich um und gehen wieder. Andere setzen sich und bleiben. Etwa als am frühen Abend das Trio „ChoralConcert“ spielt.
Karl Schultz und sein Team legen es nicht darauf an, die Besucher in lange Gespräche zu verwickeln. Es geschieht aber doch immer wieder, weil die Menschen selbst das Gespräch suchen. Gerade wenn sie sich so unverhofft in einer Kirche wiederfinden, beginnen sie, darüber nachzudenken, wann sie das letzte Mal dort waren. Oder warum schon lange nicht mehr. Ein Ehepaar staunte einmal, dass sie „auf so einem Weg“ wieder in eine Kirche hineingekommen seien, berichtet  Diakon Henry Kirsche. Etwa sieben Helfer pro Abend beantworten Fragen und achten gleichzeitig darauf, dass kein Betrunkener in die Kirche taumelt. Den Begriff „Security“ lehnt jedoch auch der Bulligste von ihnen ab.

Leise spielt das Klavier

In der St.-Josephs-Kirche ist es ruhig. Ein Klavierspieler füllt den Abend mit leiser Musik. Wenn sich die Türen öffnen, weht ein Schwall von Lärm hinein, sonst aber herrscht in der Kirche eine meditative Ruhe. Der Raum ist erfüllt von dem Licht einiger Scheinwerfer und Kerzen, deren warmes Licht sich auf den hellen Bänken spiegelt.
Ein Mann sitzt breitbeinig in der hinteren Bank. Seine Hände hat er auf die Knie gelegt. Den Kopf leicht geneigt lauscht er der Klaviermusik. Aus seiner Jackentasche ragt eine Colaflasche. Drei Besucher bekreuzigen sich im Mittelgang. Ein Mann mit schwarzer Hornbrille, das Kinn auf die Hand gestützt, betrachtet seit Minuten den Altar. Ein Paar zündet hinten in der Kirche ein Teelicht an und stellt es zu den anderen. Die Klaviermusik tröpfelt aus. Als der letzte Ton verklungen ist, stehen Besucher auf und gehen, neue kommen ihnen schon entgegen.
Pfarrer Karl Schultz sagt, vielleicht würden die Besucher gerade durch den Unterschied zwischen draußen und drinnen bemerken, was es noch in der Welt gibt.
Info
„St. Joseph by night“ findet an jedem ersten Sonnabend im Monat von 21 bis 24 Uhr in der Kirche St. Joseph, Große Freiheit 43, statt. Der nächste Termin ist also am Sonnabend, 7. Januar.