Ein Wal als Mahnmal

Verletzlich sieht er aus, dieser 14 Meter lange Wal, der im Greifswalder Dom neben dem Mittelaltar gestrandet ist. Ein Künstler aus Israel hat ihn als Abdruck eines echten Wals geschaffen. Hunderte besichtigen ihn jeden Tag.

Die Walskulptur des israelischen Künstlers Gil Shachar im Greifswalder Dom.
Die Walskulptur des israelischen Künstlers Gil Shachar im Greifswalder Dom.epd/Annette Klinkhardt

Greifswald. Gil Shachar träumte. Und im Traum sah er einen Wal, einen riesigen, gestrandeten Wal, und er machte einen Abguss davon. Und als er aufwachte, wusste er, dass das gut war, und fertigte sofort eine Skizze an. Heute, sechs Jahre später, liegt ein 14 Meter langer und neun Meter breiter Wal im Greifswalder Dom St. Nikolai – auf dem Rücken, wie angespült aus der Ostsee. „GreifsWALder Resonanzen“ heißt die Kunstaktion der Bonner „Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft“, die Gil Shachars Wal nach Greifswald gebracht hat. Der Bildhauer aus Tel Aviv kam vor 25 Jahren mit einem Stipendium nach Duisburg, wo er seitdem lebt. „Ich mache hauptsächlich Abgüsse, manchmal auch mit Objekten kombiniert“, erzählt er. Aber keines habe die Menschen so berührt wie dieses. In Kapstadt hat er den Wal schon ausgestellt.

Kunstprojekt zieht viele Besucher in den Dom

Durch den Dom schlendern im Sommer jeden Tag Hunderte Besucher, viele von ihnen bleiben länger vor dem Wal stehen. Und praktisch alle, die man fragt, sagen, der Anblick dieses majestätischen Tiers leblos auf dem Steinboden löse Traurigkeit aus. „Man denkt sofort: Was tun wir Menschen den Tieren an. Es ist wie ein Mahnmal“, sagt der junge Historiker Justus Joppich aus Bonn. Eine 52-jährige Greifswalderin vermutet, „der Anblick soll einen Schock auslösen, und das tut er auch“. Hochinteressant finde sie diese Ausstellung, noch dazu im Kirchenraum; auch wenn sie selbst Atheistin sei. Der 64-jährige Robert Gerber, der vor ein paar Jahren aus dem Rheinland an den Ryck gezogen ist, fühlt sich sofort an den Propheten Jona im Bauch des Wals erinnert – eine alttestamentliche Geschichte, die später auch als Symbol für Jesu Tod und Auferstehung interpretiert wurde. „Und natürlich macht der Anblick traurig: so ein stolzes Tier!“, sagt Gerber. „Zumal man weiß, dass die Wale weltweit durch Menschen bedroht sind.“

Es gab einen echten Wal, der alles erlebt hat

Der Künstler Gil Shachar hatte nach seinem Traum drei Jahre lang recherchiert, sich auch mit Meeresbiologen in Stralsund getroffen. Bei einem Künstleraufenthalt in Kapstadt in Südafrika stellte er Anträge bei der Regierung, suchte sich ein Team und betrieb zur Finanzierung Crowdfunding. Bis im August 2018 der Anruf kam: In Lambert’s Bay war ein Buckelwal angespült worden, „auf dem Rücken liegend und mit lauter Verletzungen auf der Haut“, erzählt Gil Shachar.

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Eine Doku, die auf einer Leinwand im Dom läuft, erzählt in stummen Bildern, wie das Team den Wal für Tage umringte, mit Gips bepinselte, jede Stelle seiner Haut berührte. „Die Oberfläche ist sehr rau, mit vielen Löchern oder Kratern, das sind alles Bisswunden“, erzählt Gil Shachar. „Dadurch wissen wir, dass er tot angespült wurde. Er hat auch zwei Schnittwunden von einer Schiffsschraube an einer Flosse. Man weiß also, es gab einen echten Wal, der das alles erlebt hat.“

Kunst und Glaube verbindet

Dass er gerade in Greifswald gezeigt wird, liegt an einem anderen Wal, der am 30. März 1545 in Wieck am Greifswalder Bodden gestrandet war – und von dem heute noch eine alte Wandmalerei in der Marienkirche erzählt. Ruth Gilberger von der Bonner Montag Stiftung, die möglichst vielen Menschen einen Zugang zur Kunst vermitteln möchte, erzählt: „Wir hatten für ein Projekt in Greifswald nach einem Impuls gesucht, den wir senden könnten, um Resonanzen zu empfangen. Gleich beim ersten Besuch sind wir auf den Wal in der Marienkirche gestoßen und waren ganz fasziniert davon, dass das ein Fresko von 1545 ist.“ Da die Marienkirche wegen ihrer festen Bänke für Gil Shachars Wal zu klein gewesen wäre, landete der Riese im Dom – wobei er auch hier nur mit Mühe durch den Eingang passte.

Noch bis zum 29. August bietet die Stiftung nun verschiedene Workshops mit Künstlerinnen und Künstlern aus der Region an – viele davon im Plattenbauviertel Schönwalde, ein paar Kilometer jenseits der Altstadt. „Kunst und Glaube verbindet dieser hoffnungsvolle Ansatz, dass man etwas verändern kann“, meint Ruth Gilberger. „Ich bin immer wieder verblüfft, was sich in unseren Projekten tut, wenn man Menschen die Möglichkeit gibt, die Freiheit, die Kunst bietet, wahrzunehmen und sich darin zu erproben.“ Manchmal merkten die Menschen, dass das Scheitern zum Schaffensprozess gehöre – und eben auch zum Leben.

Noch bis zum 29. August gibt es viele Aktionen rund um den Wal, darunter künstlerische Mitmachaktionen an der Skulptur Kauri an der Kemnitzer Wende in Schönwalde. Mehr unter www.greifswalder-resonanzen.de