Hans Christian Andersen, das ist “Die Schneekönigin”, “Des Kaisers neue Kleider” oder “Die kleine Meerjungfrau”. Dabei entstand der erste Roman von Dänemarks berühmtestem Dichter in Rom. Eine Spurensuche.
Wer die Spanische Treppe hinaufsteigt und sich rechts hält, landet in einem regelrechten Künstlernest. In der Via Sistina lebte im 18. und 19. Jahrhundert die deutsch-skandinavische Bohème Tür an Tür: die Malerin Angelica Kaufmann, ihr Kollege Franz Lenbach und der Bildhauer Bertel Thorvaldsen, die Schriftstellerin Fanny Lewald, die Komponisten Edvard Grieg und Franz Liszt – und 1833/34 der dänische Dichter Hans Christian Andersen. “Der römische Aufenthalt inspirierte ihn zu seinem Roman ‘Der Improvisator'”, so kündet eine Tafel am Haus Via Sistina 104. Denn der Märchendichter, der am 4. August vor 150 Jahren in Kopenhagen starb, liebte Italien – und umgekehrt.
Andersen, Spross einer armen Familie, floh früh in die Fantasie und in die Ferne: Deutschland, England, die Schweiz, Spanien, Portugal, das Osmanische Reich sowie Italien. Mit Ende 20 reiste er über Mailand, Genua und Florenz nach Rom, wo er 1833 von Thorvaldsen und anderen Künstlern herzlich empfangen wurde. Die herrlichen Kunstschätze und das strahlende südliche Leben wirkten wohltuend auf den jungen Autor; es entstanden die ersten Vorformen der Kleinen Meerjungfrau.
Vor allem aber ließ Andersen seine Eindrücke in den halbautobiografischen Erstling “Der Improvisator” einfließen. Der Held Antonio steigt – ähnlich wie Andersen selbst – aus ärmlichen Verhältnissen zu einem erfolgreichen Künstler auf und lernt dabei charmante und ernste Lektionen über das Leben. Von einem Adligen adoptiert, in eine Opernsängerin verliebt, zu einem Duell herausgefordert, von Banditen gefangen, macht Antonio eine schwindelerregende Reise zu Erleuchtung und Glück.
Andersen bevölkert seinen klassischen Bildungsroman mit Bettlern, Räubern, Priestern und Dichtern, bestückt ihn mit Roms Brunnen und Palazzi, Pinien und Zypressen, bezaubernden Madonnenbildern und dem Mond, der sich im Tiber spiegelt. “Der Improvisator”, der 1835 mit großem Erfolg und auch bald in deutscher und englischer Übersetzung erschien, stellte zunächst seine zugleich veröffentlichten Märchen in den Schatten.
Wie beliebt bis heute Andersens Werke in Italien sind, zeigt der seit 1982 verliehene “Premio Andersen”: Die Auszeichnung ehrt Autoren, Herausgeber, Übersetzer und Illustratoren von Kinderbüchern. Dazu ist eine eigene Fachzeitschrift “Andersen – Il mondo dell’infanzia” (“Die Welt der Kindheit”) nach dem Dichter benannt.
Für stetige optische Erinnerung an den Autor sorgt eine römische Buslinie. Zwischen 5.30 Uhr früh und 2.00 Uhr nachts fährt die 916 mit dem Busschild “Andersen” quer durch Rom. Sie zirkuliert von der zentralen Piazza Venezia im Herzen der Stadt über den Vatikan bis zur Endhaltestelle “Via Andersen”.
Diese liegt zwar im wenig attraktiven Stadtteil Quartaccio im Nordwesten, doch immerhin befindet sich der Autor in bester literarischer Gesellschaft: Die dortigen Straßen sind nach der französischen Dichterin George Sand und ihren Kollegen Gustave Flaubert, Emile Zola und Alexandre Dumas (Vater und Sohn) benannt. Sogar eine Via Fratelli Grimm (Brüder Grimm) und eine Via Thomas Mann finden sich dort.
Den deutschen Dichterfürsten und berühmtesten Italien-Reisenden hat Hans Christian Andersen übrigens verpasst: Der Palazzo an der Via del Corso 18, wo Goethe ab 1787 etwa zwei Jahre lebte, liegt zwar nur einen Spaziergang von der Via Sistina entfernt. Doch damals war der Däne noch gar nicht geboren. Und als Andersen in Rom ankam, war der Nationaldichter bereits seit einem Jahr tot.
Auf Andersens Spuren in Rom sollte man sich nicht in die Irre führen lassen: Ein Hendrik-Christian-Andersen-Museum erinnert nicht etwa an den Märchendichter, sondern an seinen 1872 geborenen norwegisch-amerikanischen Fast-Namensvetter, der 1940 in Rom starb. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.