Nach vier Oscars und einer Papstwahl hat Eward Berger das nächste Schlachtengemälde gemalt. Diesmal mit Colin Farrell als spielsüchtiger falscher Lord. Kurzweiliger wurde ein reales Inferno selten inszeniert.
Das Jenseits gilt als zweigeteilter Ort größtmöglicher Gegensätze. Während die Gottgefälligen aufwärtsfahren, wo ihr irdisches Dasein paradiesisch endet, fahren die Verdammten der Erde abwärts, wo ein ewiges Martyrium endloser Qualen auf sie wartet. Wie es dort aussieht, erfahren Sterbliche zwar immer erst nach ihrem Ende. Doch als ihm ein Freund im Zocker-Eldorado Macao vom Spielsüchtigen erzählt, der nach seinem Tod am Pokertisch sitzt und immerzu gewinnt, ahnt Frederick Reilly, dass dieser Glückspilz wohl nicht im Himmel gelandet ist – “sondern in der Hölle”, wie er sich selbst antwortet.
Seiner Hölle. Und wie die aussieht, das erfährt man im Netflix-Drama “Ballad of a Small Player” bereits, als Reilly verkatert im Chaos einer verwüsteten Hotelsuite erwacht. Und auch sein erstes Wort nach dem gescheiterten Versuch, Sachen und Sinne zu sortieren, macht die Reise der nächsten 100 Filmminuten für ihn und alle sehr früh deutlich: “Fuck!” In der Tat… Denn so teuer sein maßgeschneiderter Anzug ist und so dick das Geldbündel, das er darin verstaut: Lord Doyles Luxuslotterleben ist so fingiert wie der falsche Adelstitel. Ausgedacht hat sich beides Lawrence Osborne.
Dessen gleichnamiger Roman ist zwar keine Weltliteratur, aber wohlwollend besprochenes Ausgangsmaterial für den international aktuell angesehensten Regisseur deutscher Herkunft: Edward Berger. Nach vier Oscars für seine Netflix-Serie “Im Westen nichts Neues” und der vielbeachteten Papstwahlfiktion “Konklave”, hat er nun die nächste Literaturvorlage adaptiert. Und wieder ist es ein starbesetzter Rausch der Farben, Gerüche und Sounds, den sein Lieblingskameramann James Friend bildgewaltig in Szene setzt.
Weil ihn andernorts längst schon kein Casino mehr einlässt, versucht Frederick Reilly alias Lord Doyle (Colin Farrell) sein (Un-)Glück in der chinesischen Sonderwirtschaftszone Macao. Ein subtropisches Las Vegas, das selbst dem bankrotten Engländer noch die Möglichkeit bietet, sich mit der simplen Pokervariante Punto Blanco Baccarat endgültig zu ruinieren. Mit jeder verlorenen Partie schließt sich fast folgerichtig der Teufelskreis kreditfinanzierter Spielschuldenlast. Und als ihm obendrein die Geldeintreiberin Cynthia (Tilda Swinton) im Auftrag einer britischen Gläubigerin auf die Pelle rückt, scheint sein Untergang nah – bis er ausgerechnet beim Kredithai Dao Ming (Fala Chen) Unterschlupf findet.
Hatte sein dialektisches Credo, er sei “nicht spielsüchtig”, aber “kurz davor, richtig zu gewinnen”, seine Abhängigkeit bis dato moralisch abgefedert, verhilft ihm die Einheimische nun zur ersten Reflexion seiner selbstbetrügerischen Existenz. Wenn Edward Berger Lord Doyles Hybris in Colin Farrells Gesicht sucht und findet, wenn die Kamera dem herausragenden Abgrundkletterer bis in die kleinste Hautunebenheit kriecht, wenn sie den nächtlichen Glanz des Glücksritter-Refugiums gegen ihre schlammig-graue Realität bei Tageslicht schneidet – dann wird daraus Fernsehkino auf höchstem Niveau.
Einerseits. Denn andererseits bläst Drehbuchautor Rowan Joffe die Katharsis der Titelfigur zu einem immerwährenden Spiegelgefecht auf, das sein Regisseur als apokalyptisches Schlachtengemälde im Stile von Hieronymus Bosch ausmalt. Fast alles daran ist so schweißtreibend, schwelgerisch, melodramatisch und existenziell, dass der gebürtige Wolfsburger Berger unbedingt aufpassen muss. Andernfalls machen ihn seine üppigen Budgets irgendwann mal zum niedersächsischen Roland Emmerich.
Das Chaos in Lord Doyles irdischem Dasein muss dessen innere Unordnung schließlich stets ein bisschen zu aufgeplustert materialisieren. Tilda Swintons Inkasso-Beauftragte wurde dagegen fast lächerlich auf biedere Buchhalterin kostümiert. Ein nimmermüder Monsunregen fördert derweil den Schmutz lebloser Seelen und Straßen zutage, wozu Farrells imposante Mimik pausenlos die menschliche Dualität von Schöpferkraft und Zerstörungswut durchdekliniert. Dass beide zum Ende hin in einer Art magischem Realismus implodieren, ist da nur konsequent, aber auch ganz schön pathetisch. Klingt zu aufgeblasen für knappe zwei Stunden gute Unterhaltung? Nicht ganz!
Edward Berger kombiniert Panoramen und Close-ups schließlich so virtuos, dass sein hyperzivilisatorisches Inferno am Ende doch eher an Malereien von Jan Vermeer als an Hieronymus Bosch erinnert. Wie er Gefühle in Farben taucht und Gedanken in Geräusche, wie James Friends Kamera dazu Silhouetten erforscht und Volker Bertelmanns (aka Hauschka) fabelhafter Soundtrack Emotionen – das erinnert mitunter an Milieustudierende wie Sofia Coppola, Wong Kar-Wei oder Kathryn Bigelow.
Deren Filme wirken äußerlich betrachtet ähnlich oberflächenverliebt. Bis man unterm Firnis ihrer Menschheitsskizzen in Öl unsere eigenen Abgründe entdeckt und sich damit auseinandersetzt. In diesem Fall: die Hölle auf Erden eines Spielers, den seine Sucht so sehr im Griff hat, wie jede Abhängigkeit ihre Abhängigen. Nur dass das hier bisweilen ein wenig viel Glamour verströmt. Es sei Edward Berger verziehen. Denn kurzweiliger wurde ein reales Inferno selten inszeniert.