Doku “Ukraine: Der Feind im Wald” mit erschütternden Einblicken
Durch die tägliche Nachrichtenflut ist der russische Angriffskrieg in der Ukraine für viele zur abstrakten Routine geworden. Eine Sky-Doku vermag, aus dem Trott aufzurütteln.
Vor mehr als zweieinhalb Jahren fielen russische Truppen in die Ukraine ein. Seither wurde das Grauen des Krieges bereits mehrfach in Filmen festgehalten. Jamie Roberts, bekannt durch “Sturm auf das Kapitol – Der Angriff auf die US-Demokratie”, ermöglicht nun noch ganz andere Einblicke in den militärischen Alltag.
Im Fokus der Sky-Doku “Ukraine: Der Feind im Wald” steht ein Bataillon, das eine strategisch wichtige Eisenbahnlinie verteidigen muss. Aufzeichnungen, die die Soldaten selbst während ihrer Einsätze machten, vermitteln Bilder einer Schlacht, in der sich die archaische Grausamkeit des Tötens mit der gespenstischen Anmutung eines Videospiels vermischt. Willkommen in der Hölle.
Perspektive der ukrainischen Soldaten
Bevor die Männer den engen Unterstand verlassen, um in der klirrenden Kälte des verschneiten Waldes auf Patrouille zu gehen, beten sie ein Vaterunser. Und bitten Gott, er möge ihnen drei Schutzengel senden – einen der ihren Weg segnet, einen, “um meine Angelegenheiten zu regeln”, und einen “um meine Seele zu schützen”.
Wackelige Bilder der Bodycam, die auf dem Helm montiert ist, halten die Einsätze der ukrainischen Soldaten aus deren subjektiver Perspektive fest. Über den schnarrenden Ton des Walkie Talkies erhalten sie ihre Einsatzbefehle. Von der insgesamt 1.500 Kilometer langen Frontlinie müssen sie einen etwa fünfhundert Meter umfassenden Abschnitt in der Nähe der ostukrainischen Stadt Kupjansk verteidigen. Eroberten die Russen die hier durchführende Eisenbahnlinie, so hätten sie strategischen Zugriff auf Charkiw, die zweitgrößte ukrainische Stadt.
Einzelne Soldaten werden porträtiert
Im Wechsel zu diesen Bildern, die diese Einsätze mit teils blutigen Szenen festhalten, porträtiert der Film einzelne Soldaten. Kaum einer der Jungs ist älter als 19. Wie es ist, einen Kameraden zu verlieren? Erstaunlich gefasst sprechen sie darüber. Als wollten sie mit ihrer kontrollierten Rede Dämonen fern halten. Scherzend erklärt einer, er hätte gerne eine Pille, die seine Erinnerungen löscht. Die Männer lachen und essen gemeinsam. Geht ihnen eine Maus in die Falle, so ist dies eine willkommene Erweiterung ihres kargen Menüs.
Unter ihnen befindet sich eine einzige Frau: Natalia hat eigentlich nur eine Ausbildung als Veterinärin. In diesem Krieg, in dem es den Kämpfern an allem fehlt, an Munition und Medikamenten, ist sie nun Ärztin. Ob sie einem verwundeten Russen helfen würde? Das weiß sie nicht so genau. Einen leicht verletzten russischen Gefangenen immerhin, der einen Verband um den Kopf trägt, zeigt der Film. Aus dem fernen Murmansk kommt er. Was er hier wolle, fragen ihn die Ukrainer. Das weiß er nicht. Viel Geld habe er bekommen für diesen Einsatz. Töten dürfen die Ukrainer ihre Gefangenen keinesfalls. Der Geheimdienst wird sich mit ihnen befassen.
Im Stil eines Überwachungsvideos
Der Film entstand nach der Methode des Embedded Journalism, wörtlich übersetzt “eingebetteter Journalismus”. Über die Kooperation zwischen dem Regisseur, der offenbar einige Zeit bei der Einheit verbrachte, und den filmenden Soldaten erfährt man leider nichts. Was diesen Film von anderen dokumentarischen Innenansichten in militärische Operationen unterscheidet, ist die gespenstische Selbstverständlichkeit, mit der die virtuelle Ebene den Krieg verändert. So hantiert einer der Ukrainer im Unterstand mit einem Laptop. Auf dem Schirm beobachtet er Bilder, die ihm eine hoch über den Baumwipfeln schwebende Drohnenkamera liefern.
Damit überwachen die Ukrainer nicht einfach nur das Heranpirschen russischer Angreifer. Im Stil eines Überwachungsvideos ist zu sehen, wie an der Drohne befestigte Granaten – deren Sprengstoff zuvor mit Seife und “zwei Löffel Salpeter” selbst gemixt wurden – die ahnungslosen Opfer per Knopfdruck ins Jenseits befördern.
Gespenstisch wie in einem Videospiel
Gespenstischer noch wird es, wenn die ukrainischen Truppen obendrein sogenannte FPV-Drohnen (First Person View) nutzen, also Fluggeräte, deren Kamerablick sie mit einem Virtual-Reality-Headset steuern. Der Dokumentarfilm zeigt, wie einer der Ukrainer seine Höllenmaschine in ein Gebäude lenkt, in dem kurz zuvor ein russischer Soldat Zuflucht gesucht hat. Gespenstisch wie in einem Videospiel mutet dieses ferngesteuerte Töten an.
Wie schon in seiner Doku über die Erstürmung des Kapitols gelingt Roberts auch hier ein seltsam verstörender Film: Wenn der Kommandant der Einheit am Ende dokumentiert, wie er unverletzt zu seiner Familie zurückkehrt, so mutet dieses Happy End etwas aufgesetzt an. Keineswegs vergessen sind dabei aber jene vielen schreienden Verwundeten und die Toten, die erst sichtbar werden, wenn man die Schneedecke über ihren erfrorenen Gesichtern abträgt.
Bei manchen dieser Aufnahmen ertappt sich der Betrachter bei dem Gedanken, dass er es so genau dann doch nicht sehen wollte. Der russische Angriffskrieg, durch die Monotonie der täglichen Nachrichten zur abstrakten Routine geworden, wird in diesem Film auf eine beunruhigende Art wieder wirklich. Man muss hinsehen und eine Realität zur Kenntnis nehmen, an die sich niemand gewöhnen kann.
“Ukraine: Der Feind im Wald”: Sky/WOW, ab Samstag, 14. September