Die zwölf vergessenen Nächte

Sie sind fast in Vergessenheit geraten: die „Zwölf Heiligen Nächte“ zwischen Heiligabend und Heilige Drei Könige. In der „Kirche der Stille“ in Hamburg werden sie zelebriert.

Auf gelben Kissen nimmt man Platz im Sitzkreis der Kirche der Stille
Auf gelben Kissen nimmt man Platz im Sitzkreis der Kirche der StillePrivat

Hamburg. Bepackt mit Tüten und Taschen steht ein Gruppe Menschen an der der Bushaltestelle an der Max-Brauer-Allee in Hamburg-Altona. Der Verkehr braust vorbei. Auch wenn es einer der wenigen freundlichen Dezembermorgende in diesem Jahr ist, für den Sonnenaufgang haben die wenigsten Passanten einen Blick übrig. Eine Ecke weiter, in der Helenenstraße, ist es schon ruhiger. „Ich wünsche ihnen frohe Weihnachten“, sagt Pastorin Irmgard Nauck zu einer älteren Dame und dreht sich um. Da steht schon die nächste Frau mit einem Anliegen hinter ihr.

Seit 26 Jahren wohnt die Seelsorgerin in dem Viertel. Man kennt sie. Spricht sie an, sucht Rat. Irmgard Nauck ist die Pastorin der „Kirche der Stille“ und verkörpert selbst auf faszinierende Weise ihren Stadtteil und ihre Kirche. Wie die trubelige Stadt, die den neugotischen Backsteinbau umgibt, wirbelt sie durch den Eingangsbereich, organisiert, plant, bereitet vor. „… und dann bitte noch die Wärmflaschen füllen, damit wir die Steine wärmen können. Um 10 Uhr kommt eine Schulklasse“, bittet Nauck, während sie ihre Stiefel gegen kuschelige Wollsocken aus einem der beiden Körbe am Eingang tauscht. „Damit müssen wir uns auch was überlegen. Das kann da nicht stehenbleiben“, sagt sie und deutet auf das hüfthohe Paket im Eingangsbereich.

Eine meditative Stille

Sie öffnet die Tür zum Kirchraum, und auf einmal ist alles anders. Vergessen die Stadt mit ihrem Verkehr, vorbei die vorweihnachtlichen Menschenmassen. Der Raum selbst legt seine meditative Stille über den Besucher. Die Stadt bleibt draußen. Die hellen Wände, weiße fließende Vorhänge, die die bunten Glasfenster im ehemaligen Altarraum verdecken, lassen die Augen zur Ruhe kommen. Auch Irmgard Nauck ist auf einmal ganz ruhig. Beim Sprechen scheint sie mehr nach innen zu blicken. Sie sucht nach den richtigen Worten und achtet auf Nuancen in der Formulierung.

Irmgard Nauck ist Pastorin der „Kirche der Stille“ in Hamburg
Irmgard Nauck ist Pastorin der „Kirche der Stille“ in HamburgPrivat

Was die Besucher bei den „Zwölf Heiligen Nächten“ erwartet? „Die Frage ist viel mehr: Was erwarten die Leute?“, entgegnet Nauck. Die „Zwölf Heiligen Nächte“ seien eine alte christliche Tradition, erklärt sie. Sie reichen von Heiligabend bis zum 6. Januar, dem Tag der Ankunft der Heiligen Drei Könige. In der „Kirche der Stille“ werden sie erst am 26. Dezember beginnen. Bis zum 6. Januar lädt Irmgard Nauck dann jeden Abend um 18 Uhr für eine Dreiviertelstunde in die Kirche in Altona ein. Es gebe Obertonmusik von Kara Albert und einen kleinen Impuls. Ansonsten könne sich jeder Besucher in der Stille selbst auf die Reise zu sich machen. „Gerade, dass Weihnachten auch in mir geschieht, darin liegt ja alles“, zitiert Nauck den mittelalter­lichen Theologen Meister Eckhart. Es gehe darum, „lauschend zu werden“.

Inhaltlich wird sich Nauck mit den einzelnen Elementen der Weihnachtsgeschichte befassen. „Für mich erzählt die Weihnachtsgeschichte von urmenschlichen spirituellen Erfahrungen mit Gott“, so Nauck. Da geht es um Maria, die fähig war, die Anwesenheit des Engels wahrzunehmen. Oder die Herbergssuche als Suche nach dem eigenen leeren Raum in sich selbst. Immer wieder habe sie die Erfahrung gemacht, dass die Menschen in der Zeit nach Heiligabend besonders durchlässig seien. Viele hätten intensive Träume. „Das Jahr geht zu Ende. Die Tage sind kurz. Es ist Dunkel.“ Viele müssten nicht arbeiten und hätten Zeit ihren Gedanken Raum zu geben. „Wir besuchen unsere Verwandten, begeben uns also zurück an unseren Ursprung.“ Doch anders als bei den Rauhnächte des Volksglaubens gehe es bei den „Heiligen Nächten“ nicht um Dämonen, die es zu zerstören gilt. Es gehe „um etwas ganz Anderes. Das Existentielle, das Zerbrechliche, das Schwache – wie das Kind in der Krippe.“

Unruhiger Monat

„Ich habe das Gefühl, dass die Menschen in diesem Jahr ganz besonders unruhig sind“, sagt Nauck und erzählt von der ursprünglichen Bedeutung der Adventszeit, von der Vorbereitung auf das Licht, der vielbesungenen und doch kaum noch gelebten Besinnlichkeit. „Der Ausdruck „besinnliche Adventszeit“ bleibt mir immer ein wenig im Mund stecken.“ Adventsfeiern, Geschenke kaufen, der wirtschaftliche Jahresabschluss – all das machten den Dezember zum unruhigsten Monat des Jahres, so Nauck. „Heiligabend erscheinen dann im Gottesdienst lauter erschöpfte oder traurige Seelen, weil es in der Familie Streit gab“, erinnert sie sich aus ihrer Zeit als Gemeindepastorin.

Viel Tamtam – und danach nichts mehr

Und nicht nur das. „Als Gemeindepastorin habe ich immer darunter gelitten, dass wir Heiligabend richtig viel Tamtam gemacht haben, ab dem 25. oder 26. Dezember dann aber gar nichts mehr stattfand“, sagt sie. Der Weihnachtsbaum, die Krippenlandschaft. All das verschwinde nach Heiligabend hinter verschlossenen Kirchentüren. Anders in der „Kirche der Stille“. Seit ihrem Bestehen werden hier Jahr um Jahr die „Zwölf Heiligen Nächte“ gefeiert.

Die ehemalige Christopheruskirche ist seit 2009 „Kirche der Stille“. Seither wird hier nicht mehr gepredigt, sondern gesungen und geschwiegen. Bänke, Kanzel und Altar fehlen. Nur ein paar dunkelblaue Matten mit gelben Meditationskissen und -bänkchen gruppieren sich im Kreis um das Zentrum des Raumes – einem in warmem Braun hervorgehobenem Achteck im Boden.

Eine tiefere Gemeinschaft

„Die Menschen sehnen sich nach Stille, danach zur Ruhe zu kommen, nach einem Ort, wo sie sein können, wie sie sind“, erklärt Nauck. Denn die Stille mache etwas mit den Menschen. Immer wieder säßen Besucher mit tränennassen Gesichtern dort. Gerade im Moment, wo viele Menschen sich fragten, was da mit der Welt und Menschheit los sei, sei die Suche nach Halt, Geborgenheit und einem Ort, an dem man sich verankern kann, besonders groß. „Ich würde gar nicht unbedingt sagen, dass es eine Suche nach Gott ist. Es ist eine Suche, die sprachlich gar nicht fassbar ist“, so Nauck. „Es gibt keine tiefere Gemeinschaft als die in einer gemeinsamen Stille. Denn jeder ist verantwortlich für dieses Gefäß der Stille“, sagt sie.

Doch bis es soweit ist, ist noch einiges zu tun. Die für den Vormittag angekündigte Schulklasse ist bald da. Irmgard Nauck entschuldigt sich, beginnt die Kerzen anzuzünden und die Matten auseinanderzuziehen. Noch wirbelt sie. Doch schon bald sind sie da: die „Zwölf Heiligen Nächte“.