„Die Seligkeit hängt nicht an einem Lied“

Welche Musikstile, welche Sprache, welche Theologie? Innenansichten aus dem Vorbereitungsprozess zum neuen Gesangbuch

In den nächsten Jahren wird darüber entschieden, welche Lieder es ins neue Gesangbuch schaffen – und welche nicht. Jochen Arnold ist Direktor des Michaelisklosters Hildesheim und eines von acht Mitgliedern der Steuerungsgruppe „Neues Gesangbuch“. Mit Anke von Legat sprach er über Kriterien für  „gute“ Lieder, Worship-Musik und die Freude am Lob Gottes.

 

Brauchen wir ein neues Gesangbuch?
Klar brauchen wir das! Wir haben zum Beispiel im Bereich Popularmusik und auch beim internationalen Liedgut einen riesigen Aufholbedarf. Gospel und Lobpreis fehlen fast vollständig im aktuellen Gesangbuch. Dabei ist der Wunsch nach Liedern aus diesem Bereich groß, das zeigen zum Beispiel die neuen Regionalteile des EG (EG Plus; Wo wir dich loben…) oder die Kirchentagsliederhefte (freiTöne). Natürlich hat auch das aktuelle Gesangbuch noch Schätze, die nicht gehoben sind – aber vieles ist auch einfach nicht mehr zeitgemäß oder erreichte die Menschen in den Gemeinden nie wirklich…

Ist denn das Medium Gesangbuch selbst noch zeitgemäß?
Das haben wir uns auch überlegt – und darum wird es künftig zwei Angebote geben: B&B, ein klassisches Gesangbuch und eine Internet-Datenbank. Im Gesangbuch werden sich vielleicht rund 500 bis 600 ausgewählte Lieder finden, während die Datenbank natürlich ungleich umfangreicher sein wird. Aber auch dort wollen wir nicht einfach ein Archiv anlegen, sondern Lieder einstellen, die für das Singen in der evangelischen Kirche wesentlich sind. Und wir wollen in der Datenbank häufiger Lieder austauschen, so alle drei bis fünf Jahre vielleicht, während das Gesangbuch auf mehrere Jahrzehnte hin angelegt ist.

Nach welchen Kriterien werden diese Lieder denn ausgewählt?
Da gibt es eine ganze Reihe, sowohl musikalische als auch theologische. Aus musikalischer Sicht sollen die Lieder gut singbar sein: Die Melodie sollte nicht zu viele Sprünge haben, der Rhythmus darf nicht zu kompliziert sein. Stilistisch wird die Bandbreite sicher größer werden. Ausgewogenheit der Epochen und Stile wird dann wichtig. Dies kann dazu führen, dass bestimmte Stile vom klassischen Choral bis hin zu Worship vor allem bestimmte Alters- und Frömmigkeitsgruppen erreichen. Es wird Lieder geben, die von der Orgel oder dem Klavier, aber auch welche, die besser von Gitarre oder Band begleitet werden können. Ein weiteres Kriterium ist, ob Musik und Text zueinander passen, so dass ein Gesamtkunstwerk entsteht.

Und was sind die theologischen Kriterien?
Im Zentrum sollen die Kernaussagen des christlichen Glaubens stehen: die Schöpfung der Welt und ihre Erhaltung, die bleibende Erwählung Israels, die Versöhnung in Christus und das Handeln, zu dem der Heilige Geist uns bewegt. Außerdem sollen sie verschiedene Tonlagen der Spiritualität abdecken: Freude, Lob und Dank, aber auch Zweifel und Klage. Gerade Lieder, die eine große Not vor Gott tragen, gab es bisher zu wenige – jedenfalls solche in zeitgemäßer Sprache.

Wird auch gegendert?
Das kommt drauf an. Man kann nicht einfach in jedem alten Choral die „Brüder“ oder den „Herrn“ ersetzen. Aber es ist durchaus denkbar, dass wir vorsichtig angepasste Versionen von Strophen im Gesangbuch aufnehmen und dazu ergänzend das Original in der Datenbank anbieten.

Der Anbetungs- oder Worship-Musik wird oft vorgeworfen, sowohl musikalisch als auch inhaltlich zu seicht daherzukommen. Wie ist Ihre Haltung dazu?
Ich bin durchaus dafür, in Zukunft diese Musik stärker mit einzubeziehen, auch wenn sie nicht meine „musikalische Heimat“ ist. Bei der ersten gemeinsamen Präsenz-Sitzung der Gesangbuch-Kommission im November hatten wir den Komponisten Albert Frey eingeladen, der vielen die Augen dafür geöffnet hat, dass auch Anbetungslieder qualitativ gute Melodien und theologisch anregende Texte haben können. Und dass Menschen Freude am Lob Gottes haben, hat die Kampagne „Schick uns dein Lied“ bewiesen: Da steht „Großer Gott, wir loben dich“ an dritter Stelle – übrigens eine Übertragung des uralten Hymnus „Te deum laudamus“. In diesem Sinne ist Lobpreis eigentlich nichts Neues.

Den ersten Platz hat Bonhoeffers „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ erreicht. Was sagt das über die singende evangelische Kirche aus?
Ehrlich gesagt hat es mich schon ein wenig überrascht, dass dieses Lied so beliebt ist. Es begleitet  Menschen durch die Höhen und Tiefen des  Lebens, von der Wiege bis zur Bahre  – wie übrigens auch „Ins Wasser fällt ein Stein“, das ebenfalls ziemlich weit oben auf der Liste stand. Vielleicht kommt in beiden Liedern der Glutkern evangelischen Singens zum Ausdruck: Der Zuspruch und das Vertrauen darauf, dass Gott da ist.

Ein Gesangbuch hat nur begrenzt Platz – wenn viele neue Lieder aufgenommen werden, müssen alte dafür herausfallen. Wird es da nicht Konflikte geben?
Doch, damit rechne ich schon. Aber ich glaube nicht, dass dabei erbitterte Kämpfe ausgefochten werden, weil es in der Kommission eine große Offenheit für unterschiedliche Stile gibt. Sicher wird es auch die eine oder andere Enttäuschung geben, wenn sich jemand  mit großem Engagement für ein Lied eingesetzt hat – aber das gehört zum Geschäft. Man muss das Ganze einfach etwas sportlich sehen. Die Seligkeit hängt nicht an einem Lied. Und einen Trost gibt es ja auch: Die Datenbank kann ja stets nochmals revidiert werden.

Welches Lied aus dem alten EG möchten Sie unbedingt behalten – und welches möchten Sie unbedingt neu aufnehmen?
Ein Lied außerhalb des EG ist das Osterlied von Zink/Hufeisen, „Wir stehen im Morgen“. Es hat es immerhin schon unter die Wochenlieder geschafft. Ich freue mich auch, wenn mein „Agnus Dei“ (Christus, Antlitz Gottes) drin wäre… Vom EG-Bestand unbedingt: Luther, „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ und vielleicht Paul Gerhardt, „Ich steh an deiner Krippen hier“. Aber die werden es eh schaffen….