Die Nacht, als das Wasser kam

Vor 60 Jahren brachen in Hamburg die Deiche, über 300 Menschen starben. Lisa Frick blick mit ihrem Bruder zurück auf die Sturmflut – und auf ihre Rettung in einer Kirche.

Aus den überfluteten Stadtteilen wurden die Bewohner mit Booten gerettet
Aus den überfluteten Stadtteilen wurden die Bewohner mit Booten gerettetepd

Hamburg. Ausgerechnet „Vincinette“, die „Siegreiche“, hieß der Sturm aus Nordwest, der das Wasser der Nordsee in die Elbe drückte. Vier Tage lang hatte es bereits gestürmt, zuletzt war selbst bei Ebbe der Wasserstand in Hamburg nicht merklich gesunken. Gegen 20.30 Uhr lief am 16. Februar 1962 die erste Sturmflutwarnung im Radio. Doch offenbar gingen die meisten unbesorgt schlafen.

Lisa Frick wohnte damals in der Kirchdorfer Straße 150. Gemeinsam mit ihrem Bruder Hans Eddelbüttel erinnert sie sich an die Katastrophe: An diesem Abend habe die Familie zuerst noch gemütlich zusammengesessen und geklönt, so Eddelbüttel: „Keiner hat daran gedacht, dass das Wasser zu uns kommt.“ Dann ging es zu Bett.

Wasser stand bis zum Lichtschalter

Kurz nach Mitternacht brach der erste Deich in Neuenfelde am Südufer der Elbe. 60 weitere Deichbrüche folgten. Der Pegelstand war in der Nacht auf 5,70 Meter gestiegen. In der Familie bemerkte Hans das als Erster: Morgens um sechs Uhr wollte er zur Arbeit – und stellte fest, wie das Wasser immer weiter stieg und ins Haus strömte. „Das Wasser ging in unserer Wohnung schließlich bis zum Lichtschalter“, erinnert sich Lisa Frick. Im Zuhause ihres Bruders, etwas tiefer gelegen, stand es 1,60 Meter hoch.

Hans Eddelbüttel und Lisa Frick erlebten die Sturmflut im Stadtteil Wilhelmsburg
Hans Eddelbüttel und Lisa Frick erlebten die Sturmflut im Stadtteil WilhelmsburgKristina Tesch

Irgendwann hörte die Familie Durchsagen der Bundeswehr, die dazu aufrief, zu einem Sammelplatz zu kommen. Der befand sich in der Kreuzkirche auf der höher gelegenen Kirchwarft. Soldaten sorgten dafür, dass Lisa Frick, ihr drei Jahre alter Sohn und ihre Mutter durch die Fluten dorthin gelangten. „In der Kirche wurden die Bänke zusammengeschoben, und die Leute haben vor dem Altar Platz genommen“, so die Zeitzeugin. Manche hatten Decken, andere nur das, was sie am Leib trugen. Herbeigeschafftes Stroh lag auf dem Boden, dort übernachteten die Besucher. „Es waren so viele Leute, das war alles überlaufen. Es war wie eine große Belagerung.“

Die Flut brachte 315 Hamburgerinnen und Hamburgern den Tod, darunter auch fünf Helfern. Die meisten überraschte das Wasser im Schlaf: Neben Finkenwerder, Francop und Altenwerder traf es vor allem die Elbinsel Wilhelmsburg. Allein hier ertranken mehr als 200 Menschen. Gefährlich seien insbesondere Hindernisse unter Wasser gewesen, wie etwa Stacheldrähte, an denen auch Menschen hängen blieben und verzweifelt ums Überleben kämpften.

Rathausmarkt unter Wasser

Viele flüchteten auf Bäume oder Dächer und warteten in der eisigen Nacht auf Hilfe. Das Schicksal von Ernst und Christel Bennewitz, die fünf ihrer sieben Kinder in den Fluten verloren, steht beispielhaft für die Tragödie. Am frühen Morgen erreichte die Flut auch die Innenstadt, der Rathausmarkt stand unter Wasser. 20 000 Menschen wurden obdachlos.

Hören Sie hier einen Beitrag des Evangelischen Rundfunkdienstes zur Flut.

Am Morgen nach dem Deichbruch sei es sehr kalt gewesen, schildert Lisa Frick. „Die Sonne ging glühend rot auf: Ich kriege jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke. Ich war froh, mit meinem Sohn auf der Kirchwarft zu sein. Dort hat man mich mit offenen Armen aufgenommen“, erinnert sie sich. Ihre Stimme klingt bewegt.

Sie half, wo sie konnte, verteilte Hilfsgüter, schenkte warmen Tee ein. Nach einer Woche konnte sie mit ihrer Familie ins eigene Haus zurückkehren. In einem nahen Gasthof verteilte die Bundeswehr Hilfsgüter an die Bürger: Milchsuppe, Betten, Schlauchboote, Öfen und Heizmaterial dafür – es habe eine große Hilfsbereitschaft gegeben, so Frick.

Was Hamburg gelernt hat

Hamburg hat aus der Katastrophe gelernt und seitdem die Deiche systematisch ausgebaut. Als bei der nächsten Sturmflut am 1. März 1976 die Wasserpegel auf 6,45 Meter anstiegen, 0,75 Meter höher als 1962, gab es zwar hohe Sachschäden, aber es wurde niemand getötet. Mittlerweile ist die Hauptdeichlinie seit der Flut von 1962 um 2,50 Meter erhöht worden. Laut Senat soll bis 2037 die rund 100 Kilometer lange Hochwasserschutzlinie um weitere 80 Zentimeter erhöht werden. Einbezogen werden dabei die Klimaprognosen bis 2050.

Und Lisa Frick? Später, nach der Flut, wurde sie Gemeindesekretärin in der Kirchengemeinde Kirchdorf. An die Sturmflut von 1962 wird sie sich zeitlebens erinnern – und sagt bis heute: „Wenn es richtig stürmt, dann denkt man schon: ‚Hoffentlich geht das gut‘.“

Info
Der Hamburger Michel erinnert am Mittwoch, 16. Februar, um 12 Uhr mit einer Andacht an die Opfer der Sturmflut.