Die Lutheraner und der Krieg

Die Lutheraner in Russland und der Ukraine blicken auf eine Tradition zurück, die Jahrhunderte zurückreicht. Von der langen Geschichte der protestantischen Einwanderer mit deutschen, baltischen oder finnischen Wurzeln zeugen heute noch prachtvolle Gotteshäuser wie die St.-Petri-Kirche in St. Petersburg und die Paulskirche in Odessa. Nach Enteignung und Zweckentfremdung in der Sowjetzeit wurden die Kirchenbauten schon vor Jahren an die Gemeinden zurückgegeben. Heute belastet der von Russland begonnene Krieg in der Ukraine die lutherische Minderheit.

Wie viele andere Ukrainer, die orthodoxen Glaubens sind, leiden auch die Lutheraner unter den Folgen des Krieges, wie Enno Haaks vom Gustav-Adolf-Werk in Leipzig berichtet. Stromausfälle prägten den Alltag, die Angst vor dem kommenden Winter sei groß, sagt der Generalsekretär des Diasporawerks der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Viele Mitglieder der lutherischen Gemeinden hätten das Land seit Kriegsbeginn verlassen. So lebten derzeit noch etwa 600 bis 700 Mitglieder der konfessionellen Minderheit in der Ukraine, vor dem Krieg waren es rund 2.500.

Besonders schwere Auswirkungen hatte der Krieg im Osten der Ukraine. In den von Russland besetzten Gebieten mussten ganze Gemeinden aufgegeben werden. Die Bewohner hätten ihre zerstörten Heimatorte verlassen, berichtet Haaks. Das evangelische Hilfswerk unterstützt Betroffene zusammen mit der Diakonie Katastrophenhilfe. So wurden laut Haaks erst kürzlich Wohncontainer für geflüchtete Familien aus der Ostukraine errichtet.

Die Hauptkirche der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in der Ukraine ist St. Paul in Odessa. Das durch Brandstiftung 1976 zerstörte Gebäude wurde nach der Rückgabe an die Lutheraner ab 2005 mit Hilfe der bayerischen Landeskirche wiederaufgebaut und aufwendig restauriert. „Noch ist die Kirche unbeschädigt, noch ist das Turmkreuz über dem Hafen von Odessa zu sehen“, so Haaks. Aber die Front sei nahe und ein Teil der Gemeinde liege schon im Kriegsgebiet.

Der Theologe Andreas Hamburg war von 2009 bis 2014 Pfarrer an der Paulskirche in Odessa. Das Leben der Gemeinden gehe trotz des Krieges und der Fluchtbewegung weiter, sagt er. „Aber der Krieg ist allgegenwärtig, sei es beim Gebet, der Verteilung humanitärer Güter, der Seelsorge an den Flüchtlingen und Soldaten oder der Verkündigung“, schildert Hamburg, der inzwischen als Gemeindepastor in Bremen arbeitet und auch kirchlicher Friedensbeauftragter ist. Er hat mit zahlreichen Partnern ein Solidaritätsnetzwerk aufgebaut und organisiert Hilfslieferungen in die Ukraine.

Auch bei den Lutheranern in Russland hinterlässt der Konflikt tiefe Spuren. Durch den seit zweieinhalb Jahre andauernden Krieg sei ein „System des Misstrauens“ entstanden, sagt Enno Haaks. Die Lutheraner in Russland könnten nicht frei sprechen und müssten sehr vorsichtig sein, was sie sagen. „Keiner traut sich, offen zu reden“, sagt der Theologe. Im europäischen Teil Russlands leben seinen Angaben zufolge noch etwa 15.000 bis 17.000 Lutheraner.

Die Beziehungen zwischen der evangelischen Kirche in Deutschland und den Partnerkirchen werden durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogen. Abgesehen von wenigen Reisen deutscher Kirchenvertreter seien die Kontakte weniger geworden, so Haaks. Auch der Geldtransfer für Hilfsprojekte sei schwieriger geworden: „Wir versuchen Wege zu finden, Geld zu den russischen Partnern für ihre Projekte zu senden. Das ist eine Herausforderung“, resümiert der Generalsekretär des Hilfswerks.

Der Krieg stellt auch die Beziehungen zwischen den lutherischen Gläubigen in beiden Ländern auf eine Belastungsprobe. Der in der Ukraine geborene Theologe Hamburg glaubt mit Blick auf den Konflikt zwischen Moskau und Kiew nicht daran, dass es auf absehbare Zeit eine Einheit zwischen ukrainischen und russischen Lutheranern geben wird. „Seitens der russischen Lutheraner gibt es ein betretenes Schweigen, bis auf wenige Ausnahmen“, sagt Hamburg.