Die Kunst der Brüderlichkeit

Seine ganze Liebe galt den Kindern: Der tschechische Pädagoge und Theologe Přemsyl Pitter hat jüdische Jungen und Mädchen in seinem Kinderheim versteckt. Nach dem Krieg kümmerte er sich um die, die das KZ überlebt hatten

Petr Solar

Es ist ein erbärmlicher Zustand, in dem Přemsyl Pitter die Kinder im Getto von Theresienstadt vorfindet: Sie liegen auf dem Boden, dicht nebeneinander, in ihren eigenen Exkrementen.
Mai 1945: Deutschland ist besiegt, der Krieg zu Ende. Millionen Menschen sind tot – ermordet in Konzentrationslagern und Gefängnissen, gestorben im Bombenkrieg. Aber die Not ist noch längst nicht vorbei. Nicht für die Bevölkerung in Europa und erst recht nicht für die, die die Konzentrationslager überlebt haben. Die meisten von ihnen sind mehr tot als lebendig: krank, unterernährt, ohne ein Zuhause, ohne Angehörige, ohne Freunde. Sie sind jetzt frei. Aber eine Perspektive? Die gibt es noch nicht.
Am härtesten trifft diese Situation die Kinder – etwa die, die Pitter in Theresienstadt vorfindet. Für viele von ihnen kommt die Rettung zu spät. Sie überleben noch nicht einmal den Transport ins Krankenhaus.  
Etwas besser geht es Kindern, die Pitter in einem anderen Gebäude in Theresienstadt trifft: Die Jungen und Mädchen im Alter bis zu sechs Jahren sehen, so schreibt er in seiner Autobiographie, „erstaunlicherweise gesund aus“. Die erwachsenen Insassen, so wird ihm erklärt, hätten den Kindern freiwillig einen Teil ihrer schmalen Essenration überlassen.
Den eigenen sicheren Tod vor Augen, wollten sie wenigstens die Kinder retten.

Ständig drohte die Gefahr, verraten zu werden

Was aus den Jungen und Mädchen geworden wäre, hätte es Přemsyl Pitter nicht gegeben? Das kann niemand beantworten. Vermutlich aber wäre es ihnen schlechter ergangen. Über sich selbst schrieb der 1895 in Prag geborene tschechische Pädagoge, evangelische Theologe und Publizist: „Mein größtes Interesse, meine ganze Liebe galt den Kindern“.
Und sein Leben bestätigt dies. Pitter sammelt Gelder und gründet ein Heim für Kinder, die besonders von der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre betroffen sind. In der Zeit der deutschen Besatzung der Tschechoslowakei ab 1939 nimmt er dort auch jüdische Kinder auf – trotz aller Risiken. Ständig, so schreibt er, habe die Gefahr des Verrats gedroht: „So oft in der Nacht ein Auto in der Nähe des Militsch-Hauses hielt, glaubte ich, sie kämen mich holen.“
In der Tat: Eines Tages erhält er die Aufforderung, bei der Gestapo vorstellig zu werden. Pitter rechnet mit dem Schlimmsten. Aber wie durch ein Wunder: Er wird nicht verhaftet. Den Vorwurf, dass er jüdische Kinder verstecke, jüdische Familien besuche und ihnen Milch und Lebensmittel bringe, kontert er mit den Worten: „Das ist wahr. Aber vom menschlichen Standpunkt aus werden Sie es wohl verstehen“. Nach einer langen Stille sagt der Gestapo-Mann: „Sie können gehen.“
Am Ende aber kann Pitter den Abtransport vieler tschechischer Juden nach Theresienstadt und ihre Ermordung in den Konzentrationslagern nicht verhindern. Allein am 7. März 1944 seien im Gas von Auschwitz 3800 Juden aus den böhmischen Ländern gestorben, davon 600 Kinder, schreibt er. Und von den Kindern aus seinem Heim? Alle bis auf fünf wurden ermordet.
Den Überlebenden – nicht nur denen aus seinem Heim – gilt nach dem Krieg die ganze Hingabe und Fürsorge Pitters. Schon 1944 wurde dank seiner Initiative der illegale „Ausschuss der christlichen Hilfe für jüdische Kinder“ gegründet. Im Mai 1945 dann beginnt die Rettungsaktion „Schlösser“ von Kindern aus deutschen Konzentrationslagern und tschechischen Internierungslagern.
Aus vier ehemaligen Herrensitzen in der Umgebung von Prag werden innerhalb von kürzester Zeit Heime für Kinder. Unnötige Möbelstücke werden eingelagert, Betten und Bettwäsche aus nun leerstehenden Heimen der Hitlerjugend herangeschafft. Innerhalb von zwei Jahren nehmen Pitter und seine Leute mehr als 800 Kinder in ihre Obhut, darunter auch etwa 400 verlassene deutsche Kinder aus tschechischen Internierungslagern. 1947 endet die „Aktion Schlösser“.
1964 – Pitter lebt mittlerweile in der Schweiz – werden er und seine Mitstreiterin Olga Fierz von den ehemaligen „Schloss-Kindern“ nach Israel eingeladen. Dort erhält der tschechische Christ und Menschenfreund die Auszeichnung als „Gerechter unter den Völkern“.
Nach dem Krieg war Pitter in seiner Heimat zunehmend in Konflikt mit der kommunistischen Regierung geraten. 1951 emigrierte er über die DDR und Westberlin in die Bundesrepublik. Auch hier ging seine aus christlichem Geist getragene Arbeit weiter: 1952 beauftragte ihn der Ökumenische Rat der Kirchen mit dem Pastoraldienst im Lager „Valka“ bei Nürnberg, in dem heimatlose Ausländer, so genannte „Displaced Persons“, untergebracht waren. 1962 – nach dem Ende dieser Arbeit – ließ sich der mittlerweile 67-Jährige in Affoltern in der Schweiz nahe Zürich nieder. Am 15. Februar 1976 starb Přemsyl Pitter in einem Zürcher Krankenhaus.
Dass sein aus christlichem Glauben erwachsenes Lebenswerk nicht vergessen wird, dazu trägt die Neuausgabe seiner erstmals 1970 erschienenen Autobiographie „Unter dem Rad der Geschichte“ bei. Es ist dem Neufeld Verlag zu danken, an diesen Mann zu erinnern, der nach den Erlebnissen als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg zum überzeugten Pazifisten wurde, der Nächstenliebe  und Verständigung lebte – trotz widriger Umstände.
Interessant und spannend ist sein Buch auch deshalb, weil es etwas erzählt über das Verhältnis von Tschechen und Deutschen und weil es ein Plädoyer dafür ist, der Rache nicht das letzte Wort zu überlassen. In diesem Sinne lassen sich die letzten Zeilen von Pitters Autobiographie sicher auch als eine Art Vermächtnis lesen: „Das Böse in seinem Wesen und seinen Auswirkungen zu erkennen und dabei ein brüderliches Verhältnis zu allen Menschen zu bewahren – das ist die große Kunst, die wir erlernen müssen.“
Auch Deutschland hat Přemsyl Pitters Lebenswerk geehrt. Der  Tscheche hatte sich nach dem Krieg ja nicht nur um Hunderte verlassener deutscher Kinder gekümmert, sondern sich auch zeitlebens für Versöhnung zwischen  beiden Ländern eingesetzt: 1973 erhielt er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.