Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat Anfang Februar gefordert, Deutschland müsse „weg vom individuellen Recht auf Asyl hin zu einem objektiven Anspruch“. Dies stehe im Widerspruch zu den Überzeugungen der Europäischen Union und den weltweit geltenden Menschenrechten, sagt Petra Bendel, Professorin für Politische Wissenschaft an der FAU Erlangen-Nürnberg und Mitgründerin des Center for Human Rights (CHREN) Erlangen-Nürnberg.
epd: Frau Bendel, woher kommt das individuelle Recht auf Asyl?
Petra Bendel: In Deutschland feiern wir gerade 75 Jahre Grundgesetz. Der Parlamentarische Rat hat beim Verfassen verschiedene Erwägungen im Kopf gehabt, nämlich einerseits im Kontext der Verfolgung der damaligen Sowjetzone. Andererseits, weil so viele in der Zeit des Nationalsozialismus keinen Schutz fanden. Juden, die vor den Nazis flohen, und politisch Verfolgte standen vor der Schwierigkeit, dass kaum ein Staat bereit war, sie aufzunehmen. Sie waren diesen Staaten gegenüber völlig rechtlos und viele von ihnen konnten deswegen Nazideutschland nicht verlassen. Dass wir das Grundrecht auf Asyl 1949 in das Grundgesetz aufgenommen haben, ist die direkte Reaktion auch auf diese rechtlose Zeit.
epd: Wie sah es weltweit aus? Hat überall gleichzeitig der gleiche Lernprozess stattgefunden?
Bendel: 1951 entstand die Genfer Flüchtlingskonvention. Später haben wir in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union den Artikel 18 verankert: das Recht, um Asyl zu ersuchen. Und Artikel 19 sagt: Es ist nicht gerechtfertigt, Kollektivausweisungen vorzunehmen, also die Ausweisung von ganzen Gruppen. Niemand darf in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm das Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung droht.
epd: Warum ist es ein individuelles Recht? Markus Söder sagt, man solle lieber einen „objektiven Anspruch“ schaffen.
Bendel: Das individuelle Recht ist so wichtig, weil jemand aus einem Staat kommen kann, wo nicht ganze Gruppen verfolgt werden, sondern man persönlich verfolgt wird. Es kann auch sein, dass in einem Staat bestimmte Regionen eher betroffen sind. Deswegen schaut man auch im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf der Grundlage des Völkerrechts, des EU-Rechts und des deutschen Rechts ganz genau nach, ob eine Person selber tatsächlich verfolgt ist.
epd: Wie beurteilen Sie die Diskussion, die im Moment läuft, das Asylrecht noch stärker einzuschränken?
Bendel: Es ist erschreckend, dass dieses hohe Gut zusehends infrage gestellt wird, dass es sogar eine regelrechte Kampagne gegen das individuelle Recht auf Asyl gibt. Es ist dabei zu beachten, dass der Kern dieses Rechts nicht nur in Deutschland liegt, sondern er liegt in der Genfer Flüchtlingskonvention. Das ist ein menschenrechtlicher Standard, der in vielen Verträgen enthalten ist, auch in den Verträgen der Europäischen Union. In der EU ist er sogar durch zahlreiche Verordnungen und Richtlinien fixiert, die in Deutschland Vorrang vor dem nationalen Recht haben. Das heißt, Deutschland könnte einer solchen Verpflichtung nur dann entgehen, wenn es aus der EU austritt und aus der Europäischen Menschenrechtskonvention.
epd: Das individuelle Recht auf Asyl wurde vor 30 Jahren schon einmal eingeschränkt. Wie war damals die Argumentation?
Bendel: 1992/93 gab es eine sehr hohe Zahl an Asylanträgen vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege. Damals entschied der Deutsche Bundestag, den Schutzbereich des damaligen Artikels 16 im Grundgesetz, der einfach nur hieß „politisch Verfolgte genießen Asyl“ stark einzuschränken. Aus Artikel 16 wurde der Artikel 16a, der auch heute noch besteht. Es wurde die Regelung der sogenannten sicheren Drittstaaten eingeführt, nach der sich eine Person nicht auf das Asylrecht berufen kann, wenn sie aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem sie Schutz gewährt bekommt. Die Parallele zu heute in der politischen Situation war, dass der Druck von den damals überforderten Kommunen und von den Bundesländern auf die damalige Bundesregierung sehr stark war, das Grundrecht auf Asyl einzuschränken.
epd: Gibt es Alternativen zum individuellen Recht auf Asyl?
Bendel: Alternativen, die diskutiert werden, sind im Wesentlichen zwei. Einerseits, dass wir Kontingente aufnehmen. Kontingente für die am meisten verletzlichen Personen wie Schwangere, Kranke oder Minderjährige, wie sie von CDU/CSU gefordert werden, gibt es längst. Diese heißen humanitäre Aufnahmeprogramme. Das hatten wir im Falle der syrischen Flüchtlinge 2014. Wenn man diese Säule des internationalen Schutzes ernst nimmt, dann muss man sich dafür einsetzen, diese zusätzlich zum individuellen Recht auf Asyl zu fördern. Jedes Jahr kann weniger als ein Prozent von Flüchtlingen über solche Kontingente aufgenommen werden. Die zweite Variante, die diskutiert wird, sind Asylverfahren in Staaten außerhalb der Europäischen Union. Diese sind gefährlich und dagegen haben Gerichte, aber auch Wissenschaftler und Menschenrechtsorganisationen massive rechtliche Bedenken eingelegt.
epd: Was wäre aus Ihrer Sicht eine wirkliche Reform des Asylrechts?
Bendel: Wir brauchen eine gestaffelte Lösung, nicht die einfachen Lösungen für ein komplexes Problem. Wer das Völkerrecht, wer das Grundgesetz ernst nimmt, der muss an anderen Stellen ansetzen, als das individuelle Recht auf Asyl abzuschaffen. Er muss Erstaufnahmestaaten im globalen Süden deutlich besser unterstützen. Er muss fordern, Rechtsbrüche in Europa, wie Pushbacks, zu ahnden. Er muss menschenrechtliche Regelungen und Überprüfungen bei Drittstaaten einsetzen. Er muss die Kommunen in ihrer wichtigen Integrationsarbeit dauerhaft unterstützen. Und er muss in dieser ganzen Debatte um irreguläre, um illegale Migration, mit sauberen Aufnahmedaten argumentieren. In den letzten Jahren hat eine deutliche Mehrheit aller Menschen, die in Deutschland um Asyl ersucht haben, auch tatsächlich einen Schutzstatus erhalten, und zwar 72 Prozent. (00/0934/21.03.2024)