“Die Gleichung ihres Lebens”: Scheitern und glückliche Folgen

Vielschichtiges Drama um eine hochbegabte Mathematikstudentin, die sich in ihrem Fach, aber auch im Leben erst noch emanzipieren muss.

Am Anfang ist alles ganz einfach. Während mathematische Hypothesen für Mathe-Muffel schon im Ansatz schwer zu begreifen sind, gilt dies nicht für die “Goldbachsche Vermutung”: Jede gerade Zahl, die größer als 2 ist, ist Summe zweier Primzahlen. Das klingt ebenso knapp wie einleuchtend. Doch was leicht zu verstehen ist, kann äußerst schwer zu beweisen sein.

So auch in diesem Fall: Es ist eine Bewährungsprobe nach Maß, an die sich im Film “Die Gleichung ihres Lebens” die kluge junge Mathematikerin Marguerite Hoffman herangetraut hat. Die Doktorandin an der berühmten Pariser Ecole Normale Superieure steht kurz vor ihrer Dissertation, von der sie und ihr renommierter Doktorvater Laurent Werner sich bedeutende Fortschritte in Sachen “Goldbachsche Vermutung” versprechen.

Außerhalb der Seminarräume wird Marguerite als exzentrische Außenseiterin geschnitten. Purer Neid. Echte Verunsicherung wächst jedoch, als Werner unverhofft einen zweiten Doktoranden akzeptiert, der zum selben Thema forscht. Außerdem lässt er Marguerite gerade dann allein, als sie ihre Arbeit öffentlich präsentieren soll. Ein Desaster. Vor versammelter Kollegenschaft weist Marguerites neuer Konkurrent Lucas ihr einen Fehler nach.

Marguerite flieht von der Universität. Entschlossen, die Mathematik abzuhaken, hat sie bald einen anspruchslosen Brotjob gefunden, teilt sich mit der Tänzerin Noa ein Apartment und wagt ungewohnte Schritte in eine bisher unbekannte Welt. Doch natürlich kann ihr Bruch mit der Mathematik nicht von langer Dauer sein.

Die französische Regisseurin Anna Novion taucht mit ihrem dritten Spielfilm in eine Sphäre ein, der sich das Kino zumeist nur auf Umwegen nähert. Mathematiker sind mit ihrem oft abstrakten Betätigungsfeld keine naheliegenden Kinohelden; mitunter halten sie eher als Nerds mit Persönlichkeitsstörungen her, die sich bis zu Paranoia und Wahn auswachsen können.

Anna Novion und ihre drei Co-Autoren sind jedoch bemüht, Marguerite vielschichtig anzulegen. Das gelingt dem Film auf einfache, aber effektive Weise schon dadurch, dass er ihren Sonderstatus als Frau in einer Männersphäre betont. Das Verhalten der fast ausschließlich männlichen Studenten und auch der zumindest menschlich fragwürdige Umgang von Werner werden als Faktoren aufgezeigt, die Marguerite verunsichern müssen.

Demgegenüber platziert das Szenario geschickt die belebenden Erfahrungen, die Marguerite außerhalb des Uni-Campus macht. Bewegt die Doktorandin sich zu Beginn noch schüchtern, mausgrau und mit Hausschuhen durch die vertrauten Hochschulbauten, bewährt sie sich in ihrem neuen Umfeld mit einer erfrischenden Unverblümtheit. Dem Film trägt das witzige Szenen ein, wenn die Ordnung schätzende Marguerite mit ihrer Mitbewohnerin aneinandergerät, sich ohne viel Umschweife an einen Discobesucher heranmacht, und vor allem, als sie sich ihr mathematisches Genie auf einträgliche Weise zunutze macht. Denn in der chinesisch-stämmigen Nachbarschaft kommt es regelmäßig zu Mahjongg-Spielen um Geld, bei denen Marguerite bald die unbesiegbare Meisterin ist.

Visuell öffnet sich der Film immer mehr und erweitert die anfangs fade Farbpalette um leuchtende, vor allem bläuliche Töne. Marguerites Emanzipation wird auch mit einer beweglicheren Kamera umgesetzt. Novion spielt die Mathematik aber nicht gegen den Rest der Welt aus, sondern zeigt, wie Marguerite durch ihr verändertes Leben zum Kern ihrer Forschung zurückfindet. Dafür sucht sucht sie nun von sich aus den Kontakt zum Rivalen Lucas und beginnt mit ihm eine Zusammenarbeit, bei der sich beide von ihrem Enthusiasmus mitreißen lassen – und auch andere Gefühle zwischen ihnen entstehen.

Es liegt ein eigener Reiz darin, wie den zwei Rechenkünstlern im Privatleben kleine Berechnungsfehler unterlaufen und das erwünschte Ergebnis keineswegs auf glattem Weg zustande kommt. Großen Anteil am Unterhaltungsfaktor hat die Konzentration auf wenige, markante Charaktere. Im Mittelpunkt steht die französisch-schweizerische Darstellerin Ella Rumpf, die bislang eher für provokante Figuren bekannt war. Hier aber findet sie sich mit eindrucksvoller Wandlungsfähigkeit in die zurückhaltende, oft auch unbeholfene Marguerite ein. Rumpf und Novion loten nicht nur die Unsicherheit und aufblühende Neugier der jungen Mathematikerin aus; sie machen auch ihre Augenblicke des Triumphes und der Verzweiflung sogar dort nachvollziehbar, wo man als Nichteingeweihter in den Formeln nur noch einen Haufen Ziffern, Zeichen und Striche zu erkennen vermag.